awogfli
Wie Ihr wisst, und wie ich schon öfter dargelegt habe, interessiere ich mich für solche Themen nicht aus Sensationsgier, sondern aus einer pschologischen Sicht. Wenn Aufregerbücher dieser Art auf den Markt kommen, lasse ich mir auch immer Zeit mit dem Lesen, bis der Hype und der Skandal bezüglich solcher Werke in der Öffentlichkeit abgeebt ist, um das Buch abseits der Sensation und der Diskussion darüber einfach so zu bewerten, wie es ist. Das ist nun bei 3096 Tage sehr gut möglich. Weiters habe ich das Buch als Einstimmung zu Natascha Kampuschs neuestem Werk Cyberneider gelesen, um die Autorin auch kennenzulernen. Die Rezension zu Cyberneider geht übrigens Anfang Februar online. Was schon auf den ersten Seiten von 3096 Tage ins Auge springt, ist der Umstand, dass sich Kampusch mit der Formulierung ihrer Biografie von der Journalistin Corinna Milborn und Heike Gronemeier hat helfen lassen. So etwas finde ich eine ausgezeichnete Idee, vor allem auch die Wahl ihrer Helferinnen wurde exzellent ausgeführt und sticht angenehm hervor im Meer der prominenten Dilettanten, die sich Ihr Buch entweder so schlecht und recht selber schreiben oder einen Journalisten beauftragen, der auch nicht strukturiert schreiben und gut formulieren kann. In diesem Fall wird das Werk tatsächlich sprachlich zu einem Gedicht. Alleine wie die Vorstadt von Wien und die Siedlung am Rennbahnweg beschrieben wird, das ist so gut und lyrisch, als obs aus einem Roman wär. Inhaltlich habe ich wirklich detailliert erfahren, was ich alles wissen wollte und auch in einem Stil, der für mich sehr adäquat war. In keiner Situation oder Beschreibung wirkt diese Biografie aus der Sicht des Opfers larmoyant oder selbstmitleidig, im Gegenteil, Kampusch versucht wirklich alles möglichst sachlich und abgekoppelt von ihren derzeitigen Emotionen zu beschreiben, obwohl sie ihre eigenen Gefühle zum Zeitpunkt des Kerkers der Leserschaft schon vermittelt, aber eben sehr analytisch. Manchmal übertreibt sie auch ihren Beobachtungsposten auf sich selbst und wirkt teilweise wie ihre eigene Psychiaterin, die mit dem dementsprechenden ganz schön komplexen psychoanalytischen Fachvokabular um sich wirft, das sie sich nach ihrer Befreiung offenbar angeeignet hat, um zumindest intellektuell zu verstehen, was in der Welt des Täters eigentlich vorgegangen ist. Das klingt dann für die Leser bei all den recherchierten Fachbegriffen und psychischen Mustern manchmal etwas zu überkandidelt, aber ist eben auch eine sehr interessante Bewältigungsstrategie von Kampusch, das völlig Unverständliche irgendwie zumindest psychiatrisch zugänglich zu machen und zumindest ein bisschen zu erklären. Bei all dem bleibt sie aber authentisch und sie selbst - nicht als gefangenes kleines Mädchen und als Opfer, sondern als erwachsene reflektierte und distanzierte Frau, die ihre Lebensgeschichte Revue passieren lässt. Im Detail ist die Täteranalyse, die dabei zustandekommt, richtig brilliant, aber auch die Überlebens- und Gegenstrategien von Kampusch sind sehr interessant zu lesen. Ein paar Mal entstehen Redundanzen im Werk, zum Beispiel, wenn sich Kampusch von der Öffentlichkeit nicht zum Opfer mit Stockholmsyndrom machen lassen will. Alle Redundanzen, die mir aufgefallen sind, waren aber eher ein Mantra für sich selbst, der unbelehrbaren Öffentlichkeit mehrmals zu versichern, wie Kampusch gewisse Situationen interpretiert haben möchte. Oft wurde ihr von der Journaille nämlich nicht zugehört und wie wild sensationsgeiler Schwachsinn spekuliert, was teilweise sogar bis in die Gegenwart anhält, deshalb muss sie das eben mehrmals richtigstellen. Auch die von der Presse in den Dreck gezogene Beziehung zu ihren Eltern wird genau definiert und ehrlich mit den Problemen aber auch mit viel Liebe und Verständnis analysiert- so wie viele Kinder hatte Kampusch präpubertäre Ablösungstendenzen von der Mutter und gröbere Probleme mit der Scheidung ihrer Eltern. Fazit: Chapeau, Frau Kampusch, für dieses Buch, es ist sehr gut erzählt und sticht auch qualtitativ hervor, Respekt vor Ihrer Person, Ihrer Geschichte und wie Sie damit umgegangen sind.