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evaczyk

Posted on 6.7.2025

Alles in Auflösung Das marode Haus, das über der Journalistin Willa und ihrer Familie zusammenzustürzen droht, ist symbolisch für die Ungewissheiten und Zerfallserscheinungen in Barbara Kingsolvers Roman "Die Unbehausten": alles ist irgendwie in Auflösung. Beruflich, Privat und Politisch. Denn Willa bekommt als Journalistin die Auswirkungen der Medienkrise zu spüren. Die einstige Zeitschriftenredakteurin muss nun als Freelancerin über die Runden kommen. Ihr Mann, ein Universitätsprofessor, hofft auch mit über 50 noch vergeblich auf eine Festanstellung. Tochter Tig, zu der Willa seit Jahren ein konfliktbeladenes Verhältnis hat, driftet scheinbar ziellos durchs Leben und ist gerade wieder in die Familie zurückgekehrt. Sohn Zeke, ehrgeiziger Harvard-Absolvent mit enormen Studienschulden, erlebt eine private Tragödie. Seine Freundin hat Suizid begangen, das gemeinsame Kind ist erst wenige Wochen alt. Zeke geht auf emotionale Distanz zu dem Baby, das in Willas Obhut kommt. Aus einem Provisorium wird ein Dauerzustand. Dabei fordert bereits der schwerkranke Schwiegervater Zeit, Aufmerksamkeit und Pflege. Mit seiner nicht immer einfachen Persönlichkeit und seiner Vorliebe für einen populistischen, aggressiven Politiker, der nur als "Megafon" bezeichnet wird und an Donald Trump erinnert, ist der Schwiegervater für Willa mitunter schwer zu ertragen. Dass ein Handwerker das Haus als nicht mehr zu retten bezeichnet, ist ein zusätzlicher Schlag. Ist die Familie demnächst obdachlos? Willa hofft auf historischen Wert des Gebäudes und Fördermittel für eine Renovierung. Sie beginnt zu recherchieren und stößt auf die Spur der Naturforscherin Mary Treat. Treat war eine ungewöhnliche Frau, die im Austausch mit Charles Darwin und anderen Wissenschaftlern stand, eine Autodidaktin, die in der Kleinstadtgesellschaft eher skeptische beäugt wird. Hier setzt die zweite Erzählebene der "Unbehausten" ein, denn auf dem Grundstück, auf dem jetzt Willa und ihre Familie leben, lebte einst der Lehrer Thatcher mit seiner Ehefrau, Schwiegermutter und Schwägerin. Das Haus ist ähnlich marode und als Lehrer mit Einjahresvertrag kann Thatcher seiner Frau nicht den Lebensstandard bieten, an den sie in ihrer Jugend gewohnt war. Als Thatcher, der an der Schule wegen seiner Reformvorschläge und naturwissenschaftlichen Denkens im bibeltreuen Milieu isoliert ist, Mary Treat kennenlernt, findet er eines Geistesverwandte. Die Handlung wechselt immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit und folgt den Protagonisten im Abstand von 150 Jahren durch eine Welt, in der es keine Gewissheiten mehr gibt beziehungsweise alles Neue abgelehnt wird. Dieser Wechsel ist reizvoll, wie auch der Kampf gegen Windmühlen Sympathien für die Romanfiguren weckt, die sich im Verlauf des Buches weiterentwickeln und an Tiefe gewinnen. "Die Unbehausten" zeigt Welten voller Widersprüche und Ungewissheiten und den Versuch von Individuen, ihre Würde und Authentizität zu wahren angesichts widriger äußerer Umstände.

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