evaczyk
Spionin in der Landkommune Sadie Smith, die Protagonistin in Rachel Kushners ungewöhnlichem Spionageroman "See der Schöpfung", heißt eigentlich ganz anders - aber Namen sind für die Ich-Erzählerin so eine Sache. Sie schlüpft scheinbar mühelos in neue Identitäten, die sie über Monate aufrechterhält, in ein erfundenes Leben eintaucht. Früher für die CIA, mittlerweile für private Auftraggeber. Anders als James Bond hat sie keine Lizenz zum Töten, sondern verlässt sich eher auf die Waffen einer Frau, insbesondere ihre beachtlichen, wenn auch nicht ganz echten Brüste. Und statt Martini bevorzugt sie französische Weine. Ihr neuer Auftrag führt Sadie auch nicht in den internationalen Jet-Set, in dem sich 007 bewegt, sondern in eine französische Landkommune. Die Annäherung war lang und konspirativ, auch etwas, was in einem James Bond-Film nie vorkommt: Die angebliche Langzeit-Literaturstudentin hat ein Verhältnis mit Lucien begonnen, einem Regisseur aus großbürgerlicher Pariser Familie. Lucien glaubt selbstverständlich, dass die Initiative von ihm ausging und er eine schüchterne US-Studentin erfolgreich verführt hat. Dabei ist er nur Mittel zum Zweck, denn sein Kindheitsfreund Pascal in der Anführer einer Aussteigerkommune auf dem Land. Sadies Auftraggeber glauben. die Mitglieder radikalisierten sich zunehmends, unter Einfluss des Ex-Revolutionärs Bruno, der mit den Kommunarden per Email kommuniziert, ansonsten aber eine buchstäblich verborgene Gestalt ist. Klar, dass Sadie bei dem Austausch schon lange mitliest. Sie weiß, Bruno lebt in einer Höhle. Er verwundert und fasziniert sie mit seinen langen Erörterungen über die Neanderthaler, in denen er die besseren Menschen sieht. Zurück in die Höhle als Lebensmotto? Und was hat das alles mit dem - möglicherweise gewalttätigen - Widerstand gegen die Agrarindustrie zu tun, die die herkömmliche Lebensweise der Kleinbauern mit Monokultur und dem Bau von Megawasserbecken zu zerstören droht? Es sind vor allem Sadies Beobachtungen und geistige Monologe - scharfsinnig, zynisch und nicht ohne Humor, die Kushners Roman so lesenswert machen. Sadie mag zwar keine ausgewiesene Feministin sein, seziert aber gnadenlos Geschlechterrollen und Dynamiken toxischer Männlichkeit, die in Aussteigerkreisen ebenso funktionieren wie bei großbürgerlichen Alphamännchen. Als Agentin Provokateur soll Sadie für Eskalation sorgen und zugleich eine Enttarnung als Spitzel vermeiden - eine durchaus herausfordernde Aufgabe. Vor allem, da Brunos Zivilisationskritik auch sie zum Nachdenken anregt. Der Spagat zwischen skrupelloser Spionin und reflektierter Beobachterin sind gepaart mit einer oft ziselierten Sprache. Dabei kommt auch die Spannung nicht zu kurz. Kein klassischer Spionageroman, sondern deutlich faszinierender. "See der Schöpfung" wurde verdient für den Booker-Preis nominiert.