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evaczyk

Posted on 18.9.2024

Dekoloniale Zeitreise Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur und die Frage, was für wen sag- und zumutbar ist, geht es auch in "Anti-Christie", ihrem neuesten Buch, darüber aber auch um eine Zeitreise, Doktor Who, die tote Queen, Agatha Christie und die Frage, welches "Wir" gerade angesagt ist und wie inklusiv es ist. Klingt nach ziemlich viel? Ist es auch, teilweise erschien mir das mit viele popkulturellen und literarischen Zitaten versehene Buch deshalb ein wenig überfrachtet, denn so klug und unterhaltsam es auch ist, entgleiten der Autorin doch mitunter die Erzählfäden und ich möchte rufen, bitte ein bißchen das Tempo drosseln, um nicht den Anschluss zu verpassen und damit sich die einzelnen Elemente setzen können! Ich-Erzählerin Durga, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, Drehbuchautorin um die 50, ist zu einem Autoren-Workshop in London. Es gilt, Agatha Christie zu dekolonisieren in einer neuen Fernsehserie. Hercule Poirot soll schwarz sein, und auch geht es um die Auseinandersetzung mit Christie, die nicht mehr dem Zeitgeist entspricht - war da nicht mal ein Buchtitel mit N-wort? Die Autor*innenrunde ist entsprechend divers aufgestellt, böse könnte man sagen: Hauptsache divers, wobei Durga immerhin eine Doppelfolge von Doktor Who verfasst hat. Kontrovers wird es auch, denn divers bedeutet schließlich ganz unterschiedliche "Wirs" wie Durga bald feststellen muss. Vor dem Workshop formiert sich der Protest verunsicherter weißer Christie Fans. Wird jetzt auch noch die große alte Dame des britischen Kriminalromans für politisch unkorrekt erklärt, zensiert oder gar verbannt? Und das, wo gerade die Queen gestorben ist und die Briten Trauer tragen? Das wäre eigentlich schon mal ordentlich Stoff für ein Buch, doch damit ist nicht genug: Durga fällt gewissermaßen durch die Zeit und landet im India House des frühen 20. Jahrhunderts, unter Studenten/Revolutionären, die nicht so ganz dem Gewaltlosigkeitsideal des von Durga verehrten Gandhi entsprechen, dafür aber um so mehr dem revolutionären Eifer, den Durgas vor kurzem verstorbene Mutter teilte. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Durga hat es der Mutter nie wirklich verziehen, dass diese sich aus ihrem Leben und in den politischen Widerstand verabschiedete, als Durga gerade einmal 14 war. Plötzlich findet sich Durga im Körper von Sanjeev, einem Studenten, der ihre Erinnerungen und ihr Ethos hat. Sich plötzlich als Mann wiederzufinden, ist allerdings ziemlich verwirrend, Durga steht vor der Herausforderung wieder in die Gegewart zu Mann und Sohn zurückzufinden und in der Zwischenzeit möglichst nicht die Geschichte zu verändern. Man kennt das ja aus Science Fiction - die Vergangenheit zu verändern, könnte Zeitreisenden die Rückkehr unmöglich machen... Zugleich ist die Reise in die Vergangenheit eine Reise zu Durgas kulturellen Wurzeln, die, was die indische Seite angeht, ziemlich brachliegen. Sie ist wütend, dass ihr Vater ihr nie Bengali beigebracht hat, plötzlich ist sie in einem hochpolitisierten indischen Mikrokosmos in London, erlebt koloniale Unterdrückung, findet sich in politischen Debatten wieder, über die sie bisher nur gelesen hat. Auch auf knapp 550 Buchseiten ist das ganz schön viel Stoff. Wäre weniger mehr gewesen? Vielleicht. Aber andererseits ist diese Mischung ausgesprochen reizvoll. Ein paar Logiklöcher hat die Geschichte und lässt ein paar Fragen offen, bietet aber auch viel zum Nachdenken. Lesenswert.

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