evaczyk
Zwischen Themse und Tigris Es gibt Schriftsteller, die bleiben bei einem sicheren Erfolgsrezept und alle ihre Romane scheinen einander ein bißchen zu ähneln. Und es gibt andere, bei denen jedes neue Buch eine Überraschung ist: Wohin werden die Leser*innen als nächstes geführt? Elif Shafak, türkische Autorin im englischen Exil, gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, seit ich sie mit "Unerhörte Stimmen" für mich entdeckt habe. Ihr neues Buch, "Am Himmel die Flüsse" bestätigt mich darin wieder. Wenn es einen roten Faden gibt, der sich durch Shafaks Bücher zieht, dann ist es nicht ein bestimmtes Sujet, sondern die poetische, bildhafte Sprache, ihre Positionierung für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder anders sind als die in ihrer Umgebung. Ihr neues Buch spielt zwischen Themse und Tigris, verbindet die Liebe zu Dichtung und Geschichte mit Schicksalen zwischen 19. Jahrhundert und Gegenwart und lässt auch ein bißchen das alte Mesopotamien einfließen. Es sind Keilschriftzeichen, Zitate aus dem Gilgamesch-Epos, Flüsse und eine blaue Tafel aus Lapislazuli, die ganz unterschiedliche Menschen in diesem Roman letztlich über Raum und Zeit verbinden: Die von einem Kindheitstrauma geprägte Zaleekha, Wissenschaftlerin und Hydrologin im London des Jahres 2018, die neunjährige Narin, die 2014 in einem Ezidendorf aufwächst und nichts von den nahenden Gefahren durch den IS ahnt und Arthur, der 1840 im Schlamm der Themse geboren wird und dank seiner Intelligenz und einigen glücklichen Wendungen einer Kindheit in größter Armut entkommen kann und als autodidaktischer Wissenschaftler im britischen Museum das Gilgamesch-Epos entziffert. Trauma, Verlust, aber auch Liebe erfahren diese drei Protagonisten, die von ihrer Persönlichkeit her ganz unterschiedlich, aber alle sensibel und voller Nähe geschildert werden. Shafak verbindet einen historischen Roman, der auf wahren Gegebenheiten beruht, mit Herausforderungen der Gegenwart durch Wasserverschmutzung, Umweltzerstörung und Klimawandel sowie den Massakern - man kann durchaus auch von Völkermord sprechen - an den Eziden über Jahrhunderte hinweg. "Am Himmel die Flüsse" ist offensichtlich akribisch recherchiert, ohne "trocken" zu wirken, Wissenswertes wird in die Geschichte verwoben, in der immer wieder Zeit und Perspektive der jeweiligen Protagonisten wechseln. Elif Shafak zeigt sich hier einmal wieder als großartige Geschichtenerzählerin voller Tiefe und Lebendigkeit. Unbedingte Leseempfehlung.