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Die heilende Kraft des Meeres „Wieviel Zeit brauchst du?“ (S. 17) fragt Evan seine Frau Lorna, bevor er allein für eine Woche in das kleine Dorf Ballybrady an die irischen Küste fährt. Nach einem Unglücksfall ist ihre Ehe zerrüttet, Lorna redet nicht mehr mit ihm. Er mietet sich in einem alten Cottage ein, das verwohnt und voller Hinterlassenschaften früherer Mieter ist. Gesellschaftsspiele, zerlesene Bücher, alles weist auf glückliche Familienurlaube hin und macht ihn nur noch trauriger. Evan kapselt sich ab, will seinen Weltschmerz zelebrieren und gibt unbewusst seiner Todessehnsucht nach. Mehr als einmal bringt er sich im bzw. auf dem Meer in gefährliche Situationen, aus denen ihn seine Vermieterin Grace rettet. Auch sie lebt extrem zurückgezogen, hat alte, nie verheilte Wunden und kann sich nur zu gut in Evan hineinversetzen. Wird ihr Credo: „Aufs Wasser blicken vertreibt den Kummer und heilt allen Herzschmerz ...“ (S. 24) auch ihn heilen? Roisin Maguires „Mitternachtsschwimmer“ ist ein sehr melancholisches Buch. Während sich zu Beginn nur Evan und Grace vom Rest des Dorfes abkapseln, müssen sich nach dem Ausbruch der Coronapandemie alle abschotten. Aber sie finden dennoch Mittel und Wege, sich zu treffen und zu helfen. So kocht Evans Nachbarin plötzlich für ihn mit und man zeigt ihm den Hintereingang des Pubs, weil er WLAN und einen Whiskey braucht. Obwohl Grace und Evan oft hoffnungslos wirken, habe ich sie gemocht. Grace ist schroff und einsilbig, wird aber von allen respektiert. Sie kann anpacken und lebt im Einklang mit der Natur, gibt alten und abgeschobenen Tieren ein neues Zuhause – und Evan, als er wegen des Lockdown bleiben muss. Außerdem gilt sie als verrückt, weil sie zu jeder Jahreszeit nackt schwimmen geht. Aber ist ihr egal, was andere von ihr denken. Evan steckt mitten in einer Depression und bemerkt erst jetzt, wie lebensmüde er ist. Doch dann bringt ihm Lorna seinen Sohn Luca, weil sie systemrelevant ist und sich nicht ausreichend um ihn kümmern kann. Luca ist taub und war immer ein Streitfall zwischen ihnen. Seine Mutter hat ihn überbehütet und behandelt, als wäre er behindert, dabei weiß er sehr genau, was er will. Natürlich kracht es auch zwischen Vater und Sohn, aber Evan begreift, dass er sich bei der Erziehung zu sehr zurückgenommen und seiner Frau alle Entscheidungen überlassen hat, um Streit zu vermeiden. Ohne ihre ständige Beaufsichtigung und all die Einschränkungen blüht Luca auf. Grace zeigt ihm, was das Meer alles zu bieten hat und er darf im Dorfladen aushelfen. Aber dann soll er zurück zu seiner Mutter … Genauso schroff wie Grace ist auch die irische Küste. Im Wasser der Bucht, in der Ballybrady liegt, gibt es gefährliche Untiefen, Wirbel und Strömungen. Trotzdem bekommt man beim Lesen des Buches Lust auf eine Reise an die irische Küste, inklusive langem Strandspaziergang und einem guten Irish Whiskey. Ungeachtet seiner Traurigkeit verbreitet der „Mitternachtsschwimmer“ aber auch Hoffnung, macht Mut zum (Weiter-) Leben und zeigt, dass sich (Ver-)Schweigen bis zu einer Lüge ausweiten kann, die alles zerstört. Ein Buch, das sehr nachdenklich macht.