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Plötzlich Tyrannei Mit seinem Roman "Das Lied des Propheten" hat der irische Schriftsteller Paul Lynch eine düstere Dystopie geschrieben, die zugleich an Parallelen in Vergangenheit und Gegenwart erinnert. Am Beispiel einer sechsköpfigen Dubliner Familie beschreibt er die alptraumhaften Auswirkungen, wenn eine autoritäre Regierung in Tyrannei umschlägt und ein Land in einen Bürgerkrieg stürzt. Im Fall des Buches ist es die "Nationale Allianz", deren Griff zunächst nur allmählich das gesellschaftliche Leben und für selbstverständlich geglaubte Freiheiten abwürgt. Als zwei Polizisten an der Tür von Eilish Stack klopfen und nach ihrem Mann Larry, einem Gewerkschafter, fragen, weckt das zunächst nicht ihr Misstrauen. Larry hat nichts zu verbergen, und das Recht auf Gewerkschaften ist in der Verfassung verbrieft. Doch als Larry das Polizeirevier aufsucht, kehrt er nicht zurück. Er ist nicht der Einzige, der plötzlich verschwunden ist. Und plötzlich scheint die ganze Familie als Sicherheitsrisiko zu gelten: Eilish, eine Wissenschaftlerin, spürt bei der Arbeit plötzlich Schweigen um sich - und sieht, das plötzlich NAP-Mitglieder Karriere machen. Der Versuch, den Pass ihres ältesten zu verlängern und einen für das jüngste Kind zu erhalten, um die in Kanada lebende Schwester zu besuchen, scheitert - das Justizministerium hat Bedenken angemeldet. Eilish versucht zu funktionieren und Normalität zu schaffen. Als Schüler nach einem Protest festgenommen wurden und die Familien einen Protest organisieren, verbietet sie ihren älteren Kindern, sich den Demonstrationen anzuschließen: Bloss nicht auffallen. Sie muss den Haushalt organisieren, sich um ihren zunehmend dementen Vater kümmern. Doch die Vogel-Strauß-Politik ist zum Scheitern verurteilt. Als der älteste Sohn nach seinem 17. Geburtstag zum Militär eingezogen werden soll, ist sie entschlossen, den Jungen zu verstecken und irgendwie nach Nordirland zu schmuggeln. Doch Mark hat eigene Vorstellungen von Kampf und Widerstand gegen das System, das ihm den Vater geraubt hat. Und auch die anderen Kinder verändern sich,während immer klarer wird: Die Tyrannei hat die ganze Gesellschaft erfasst. Mit der Implosion einer Gesellschaft in Gewalt, Bürgerkrieg und Anarchie erinnert "Das Lied des Propheten" an die Entwicklung in Syrien oder Libyen, aber auch an Nationalsozialismus oder Stalinismus. Nur trifft es hier nicht Menschen, die weit weg sind, sondern eine Familie in Europa, in Irland eben. Angesichts des Rechtsrucks, den verschiedene jüngste Wahlen in Deutschland und anderen europäischen Staaten gezeigt haben, angesichts der Möglichkeit einer zweiten Trump-Präsidentschaft ist Lynchs Buch auch eine Warnung: Wehret den Anfängen. Demokratien sterben leise, heißt eine Redewendung, auch wenn sie dieser Tod hier aprupt vollzieht - doch Eilish verdrängt die neuen Realitäten lange, bis es um das nackte Leben geht. Der Alptraum einer ganz normalen Familie, für die es plötzlich ums Überleben geht und die Frage: Gehen oder Bleiben? ist eindringlich, düster und hart. Lynch neigt zu Bandwurmsätzen, die das Lesen manchmal zur Herausforderung machen, doch gleichzeitig haben seine Beschreibungen ein Art dunkler Poesie. Wenn Eilish zu Beginn des Buches über Nacht und Dunkelheit nachdenkt, hat sie noch keine Ahnung, dass eine ganz andere Dunkelheit nach ihr und ihrer Familie greift. Ein eindringliches, ebenso verstörendes wie wichtiges Buch.