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Auswandererschicksal zwischen Irland und New York Eilish Lacey lebt mit ihrer verwitweten Mutter und der älteren Schwester Rose in einem kleinen Städtchen nahe der irischen Ostküste. Auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchlebt die Familie die für die Insel typischen Migrationsschicksale: Zu Hause gibt es keine Arbeit. Rose hat Arbeit als Sekretärin, doch für Eilish gibt es höchstens Gelegenheitsarbeiten. Die älteren Brüder sind schon in England, arbeiten in Fabriken in Birmingham. Mit Hilfe eines Priesters und unter gutem Zureden von Rose bekommt Eilish eine unbefristete Arbeitserlaubnis für die USA und eine Stelle als Verkäuferin in einem Kaufhaus in Brooklyn - das ist der Ausgangspunkt von Colm Toibins Roman "Brooklyn". Es ist durchaus nicht Abenteuerlust, die Eilish auf die weite Reise führt. Ein wenig hat sie ein schlechtes Gewissen, denn sie weiß: Wenn sie weg geht, hat Rose, die ohnehin bereits 30 ist, die letzte Chance verpasst, eine eigene Familie zu gründen. Die Mutter und die Gemeinschaft werden von ihr erwarten, dass sie als letztes vor Ort verbliebenes Kind der Familie bei der Mutter bleibt und sich um sie kümmert, wenn sie im Alter auf Hilfe angewiesen ist. Ist das fair? Oder einfach der Tatsache geschuldet, dass Rose eine feste Arbeit hat, Eilish aber nicht? Es sind durchaus zwiespältige Gefühle, mit denen Eilish in die Ferne aufbricht. Die Reise in der dritten Klasse bei stürmischer See entspricht so gar nicht dem glamoureusen Bild der Atlantiküberquerungen in modernen Kreuzfahrtkatalogen. Und auch die Ankunft ist nicht leicht, denn von großer Freiheit kann keine Rede sein: Eilish lebt in einem möblierten Zimmer bei einer irischen Witwe, die ein strenges Auge auf Eilish und ihre ebenfalls irischen Mitbewohnerinnen hat. Herrenbesuch wäre undenkbar. Die soziale Kontrolle funktioniert ähnlich wie in der Kleinstadtgesellschaft. Auch die Arbeit als Verkäuferin füllt Eilish nicht wirklich aus. Sie beschließt, auf Abendcollege zu gehen, um Buchhaltung zu studieren. Das soziale Leben bewegt sich zwischen Kirche, Küche und Tanzsaal. Die ethnischen Communities sind weitgehend für sich, doch bei einer Tanzveranstaltung lernt Eilish den Italo-Amerikaner Tony kennen, die beiden werden ein Paar. Doch dann gibt es schreckliche Nachrichten aus Irland - Rose ist im Schlaf gestorben, sie hatte einen Herzfehler, von dem sie Mutter und Schwester nie erzählt hat. Eilish ist mit ihrer Trauer allein, an der Beerdigung kann sie nicht teilnehmen - schließlich dauert die Ozeanüberquerung eine knappe Woche. Doch sie beschließt, für einen Monat unbezahlten Urlaub zu nehmen und in die Heimat zu reisen, um ihre Mutter in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Dass sie dort dem örtlichen Pub-Besitzer näherkommt, hätte sie nicht erwartet. Plötzlich steht Eilish zwischen zwei Männern - und hat niemanden, dem sie sich anvertrauen kann, denn nur Rose hatte sie von Tony erzählt. Toibin nimmt die Leser*innen mit langsamer Erzählweise mit in die Auswanderungsgeschichte, von Katja Danowski als Sprecherin in der Hörbuchversion mit ebenfalls ruhigem Erzähltempo passend umgesetzt. Es sind die Beschreibungen der kleinen Dinge, der Menschen, die eine ganz andere Zeit entstehen lassen, die gerade mal zwei Generationen zurückliegen dürfte. Scheinbar ereignisloser, unaufgeregter, in einem entschleunigterem Tempo, aber nicht ohne innere Konflikte und schwere Entscheidungen. Es wird deutlich, wie anders das Leben war in einer Zeit, als nicht mals schnell ein Transkontinentalflug gebucht werden konnte, Briefe wochenlang unterwegs waren und selbst ein Telefongespräch mit hohem Aufwand und Kosten verbunden war. "Brooklyn" ist der Auftakt einer Triologie, zu der auch der vor wenigen Monaten erschienene Band "Long Island" gehört.