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awogfli

Posted on 12.6.2024

Ich mag diese Figur der durchgeknallten Protagonistin Nola Nimmerl sehr, die als Psychotherapeutin so viele gravierenden Probleme, Baustellen und ICD-fähige mentale Krankheitsdiagnosen aufweist, dass sie, anstatt andere zu therapieren, wirklich dringend selbst in Therapie gehen, oder sich sogar in die Psychiatrie einweisen lassen sollte. Das ist so kreativ und extrem schräg, eine derart fiktive, mental kranke Antiheldin zu konzipieren, die meint, bei anderen Menschen für geistige Gesundheit sorgen zu können und dann auch noch mit Spielchen ihr Therapeutenverhältnis ausnutzt, um sich einem Mann anzunähern. Dabei wird Nola Nimmerls Leben aus der Ich-Perspektive erzählt und die Autorin wirbt in dieser Konstellation ungewöhnlicherweise und sogar mit einem Schuss Ironie für Verständnis für all ihre Aktionen. Aus Außensicht eine zutiefst böse Person, die Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzt und sofort aus ihrem Beruf ausgeschlossen werden sollte, ist Nola aus Innensicht halt ein armes Würstel mit tausend Problemen, die alle thematisiert werden. Als jüngste von drei Schwestern fühlte Nola sich immer minderwertig, sie sollte eigentlich nach zwei Töchtern der ersehnte Sohn Nolan werden. Die Familie wird vom Vater ob dieser Enttäuschung dann schnell verlassen, ihre älteste Schwester Katrin wird von der Mutter geliebt, beide älteren Schwestern sind hübscher, ambitionierter und selbstsicherer als Nola. Selbst ihren Job hat Nola sich nicht selbst gewählt, der wurde ihr von der mittleren Schwester Ida vorgeschlagen. Als ihre Seelenverwandte Ida nach längerem Leiden an einer schweren Krankheit stirbt, ist Nola von der Trauer derart überfordert, dass ihr Leben nach und nach völlig entgleist. Zuerst führt sie einen Affentanz um Idas Kater auf, der sie nicht akzeptiert und ständig kratzt, lässt die Kleidung der Schwester monatelang in Kisten in der Wohnung herumstehen und entwickelt eine Obsession zu ihrem Teenagerschwarm und neuen Patienten Herrn Pechmann, dem sie gar nicht offenbart, dass sie ihn aus der Schulzeit kennt. Eigentlich hätte sie nie ein Therapeuten- Patientenverhältnis bei der Schwärmerei eingehen dürfen, stattdessen manipuliert sie Herrn Pechmann ständig und versucht letztendlich sogar seine neue Beziehung und somit den Therapieerfolg zu sabotieren. In ihrer eigenen Beziehung läuft es auch sehr schlecht, Nola wird von ihrem Partner Friedrich permanent abgewertet und ihre Bedürfnisse werden missachtet. Eigentlich hat sich ihr Lebensgefährte ohnehin schon beinahe aus der gemeinsamen Beziehung verabschiedet, weil er fast die ganze Woche in Salzburg arbeitet und nur noch zum Wochenende, quasi auf Kurzbesuch, in die gemeinsame Wohnung nach Linz kommt. Lediglich ihre große Schwester Katrin sorgt sich ernsthaft um Nola, aber wegen der Konkurrenzsituation aus der Kindheit um die Liebe der Mutter und wegen des mangelnden Selbstwerts, kann Nola keine Ratschläge und Hilfeangebote von ihr annehmen. Nolas geistige Gesundheit eskaliert auch Schritt für Schritt, sie verliert zunehmend und immer öfter ihr Bewusstsein und fühlt sich als Phönix durch die Lüfte schwingen. Quasi in Zeitlupe kann man der Protagonistin dabei zusehen, wie auf mehr als 200 Seiten ihr Leben schrittweise und auch zwangsläufig gegen die Wand fährt: Tod der geliebten Schwester, verdrängte Trauer, Isolation, Identitätsprobleme, Entfremdung in der Beziehung, Bewusstseinsstörungen, Verweigerung von Hilfsangeboten, Manipulation von Patienten, Versagen im Beruf, kompletter Zusammenbruch. Fazit: Mir hat diese spannende und ein bisschen ungewöhnliche psychologische Persönlichkeitsstudie gut gefallen, deshalb gebe ich eine Leseempfehlung. Der Leykamverlag beschreibt den Roman treffend kurz und knackig mit zwei Sätzen, denen ich vollinhaltlich zustimme: "Ein unkonventionelles Debüt, das mit sanftem Humor Einblick gibt in die Gedankenwelt einer Frau, die ständig übersehen wird. Vor allem von sich selbst."

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