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awogfli

Posted on 16.4.2024

Wow, was für eine spannende Geschichte hat sich die Autorin in Form einer feministischen Dystopie einfallen lassen. Der Plot hat mich regelrecht vom Hocker gerissen. Wir befinden uns in einer sehr nahen Zukunft. Durch den Klimawandel sind große Teile des Planeten nach und nach unbewohnbar geworden, im Rahmen der Verteilungskämpfe gab es viele Kriege und Unterdrückung von Frauen durch gewalttätige und kriegstraumatisierte Männer. Letztendlich hat eine rätselhafte Seuche jedoch alle Menschen mit Y-Chromosomen ausgelöscht. Die Geschichte präsentiert der Leserschaft also eine reine Frauengesellschaft mit ungefähr 280.000 Mitgliedern, die die noch bewohnbaren Reste der Erde bevölkern und postapokalyptische Probleme wie Wassermangel, Hitze, Trockenheit, Lebensmittelversorgung und Reproduktion meistern muss. Ja, es gibt Reproduktion, denn die Samenbanken der Vergangenheit liefern Sperma bis in die nächsten Jahrhunderte. Nach und nach enthüllt die Autorin, wie die Gesellschaft aufgebaut ist und wie sie nachhaltig ihr Überleben in all den oben genannten Bereichen sichert. Ein Frauenrat von mehreren Ältesten, die die Welt noch vor der Katastrophe kannten, lenkt die Geschicke des Volkes. Mit Ruth an der Spitze als Präsidentin. Nach und nach wird das Führungsgremium nun, da die Anführerinnen schon alt werden, verjüngt und die Amtsübergabe an die Auserwählte Ania steht bevor. Die junge Protagonistin wurde vom Rat gekürt, weil sie klug und mutig ist, sie eckt aber in der Einführungsphase mit ihrer kompromisslosen Ehrlichkeit, ihrer unbändigen Wissbegier, ihrer eigenen Meinung und der mangelnden Unterwürfigkeit, die sie natürlich für den Präsidentenjob in Zukunft qualifizieren werden, bei der derzeitigen Präsidentin Ruth ordentlich an, die einfach noch nicht das Heft aus der Hand geben will. Was als Generationenkonflikt, der beigelegt werden kann, beginnt, artet allmählich in einen verbissenen Machtkampf aus. Nebenbei enthüllt uns die Autorin durch drei extrem spannende Plottwists, dass vieles in der Frauengesellschaft anders ist, als es die Analen und das historische Narrativ überliefert haben. Ich werde nur einen davon verraten, denn sonst würde ich zu viel spoilern. Die Andropoden, also neue Männer könnten eigentlich sehr einfach reproduziert werden, denn die Seuche ist vorbei, aber die herrschende Alt-Frauenriege, die die Gräueltaten der Männer nach den Kriegen im Verteilungskampf erlebt hat, will sich nie mehr unterbuttern lassen und sortiert alle männlichen Embryonen, so wie bei uns im Rahmen der Legehennen aus. Auf diesen unterschiedlichen Positionen fußt auch der Generationenkonflikt, weil sich die jüngeren Nachfolgerinnen allen voran die zukünftige Präsidentin Ania patriarchale Muster und Unterdrückungsmechanismen gar nicht vorstellen können, da sie noch nie einen Mann gesehen und erlebt haben. Extrem interessanter Ansatz im Gedankenexperiment. Ania sagt: „Es wären unsere Kinder, wir würden sie erziehen.“ „Und sie würden trotzdem zu Männern heranwachsen.“ „Wir könnten sie formen.“ Ruth lacht, die Augen halb geschlossen. „Biologie frisst jede Sozialisation zum Frühstück, Ania.“ Die ständigen Diskussionen, Verhandlungen zwischen Ania und Ruth bezüglich der Zukunft der Gesellschaft, die Parteienbildung, die Intrigen im Konflikt von allen Frauen des Rats inklusive Pola und Alev und die Erinnerung an die Vergangenheit von Ruth und Pola, die die Gemeinschaft gegründet haben, geben einen grandiosen Einblick in dieses Matriarchat und wie es konkret auch ausgehend von unserer Gegenwart dazu kommen konnte. Wie schon gesagt, mit ein paar sehr überraschenden, grandiosen Wendungen. Die Figuren sind sehr tief und facettenreich entwickelt, die Sprache hat mir sehr gut gefallen, ich finde also tatsächlich keinen einzigen Kritikpunkt. Fazit: Ein extrem spannender, klug gemachter, feministischer Pageturner, dessen Dystopie nicht ganz so grausam ist, als dass ich ihn nicht jedem empfehlen kann. Buchstoffhöhepunkt!

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