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awogfli

Posted on 20.3.2024

Ich mag gut konstruierte Science-Fiction sehr, insbesondere wenn bei Zeitreisen die logische Konsistenz gewährleistet wird, was gar nicht so einfach ist, wenn Personen sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft eingreifen können. Der Autor vermeidet in seinem Gedankenexperiment sogar letztendlich das Zeitparadoxon inklusive die Bildung von Paralleluniversen, indem er das Ende offenlässt. So eine schlüssige Konstruktion ist zwar manchmal ein bisschen detailverliebt und etwas technokratisch, hat mich aber ob der Qualität ordentlich begeistert, zumal ja auch sehr viele philosophische Themen angesprochen werden, ob man die Zukunft verändern kann, und wenn man es kann, ob man dann so etwas tun sollte. Ob die Macht des Schicksals überhaupt existiert oder ob freier Wille möglich ist, weil ohnehin alles so kommt, wie es kommen musste, ergo der Mensch wenig Eingriffsmöglichkeiten hat. Eine sehr spannende Auseinandersetzung ist dem Autor hier mit diesem Debut gelungen. Der sehr interessante Roman beginnt vordergründig ganz traditionell mit der Geschichte von ein paar Jugendlichen in einem hermetisch abgeschotteten Tal. Protagonistin Odile Ozanne lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, der Vater ist nicht mehr da, irgendwo in einem anderen Tal. Erstmalig knüpft die Einzelgängerin Odile Kontakt zu ihren männlichen Klassenkameraden Alain und Edme und freundet sich ebenso mit den Mädchen Jo und Justine an. Relativ bald wird klar, was in dieser beschriebenen Enklave nicht stimmt. An den Grenzen des Landes im Westen kann man anhand einer Zeitleiste in 20-Jahr-Schritten in die Vergangenheit reisen und im Osten dieselbe Zeitspanne in die Zukunft. Es handelt sich immer um dasselbe Tal in unterschiedlichen Zeitzonen. Plötzlich ist auch klar, dass Odiles Vater nicht ausgewandert, sondern gestorben ist. Die Schüler der Klasse bewerben sich für unterschiedliche Berufe, die sie nachträglich sehr schwer wechseln können. Eine verfestigte Rolle in der Gesellschaft kann kaum mehr geändert werden. Odile und Jo bewerben sich für das sehr angesehene Conseil, das ist ein Richtergremium, das in Trauerfällen nach Prüfung des Falls ein Überschreiten der Grenzen des Tals in sehr engen Rahmenbedingungen und unter der Aufsicht von Wachleuten genehmigt, um Menschen zum Beispiel das Abschiednehmen von Verwandten zu ermöglichen. Die Wachmannschaften passen auf, dass Familienmitglieder und Freunde aus der Zukunft nicht aktiv werden, um den Tod der geliebten Menschen zu verhindern oder irgendwie anders in die Abläufe der Vergangenheit einzugreifen. Hier wird also sehr rigoros das Zeitparadoxon verhindert. Odile weiß auch, dass ihr Freund Edme wahrscheinlich sterben wird, sie hat seine Eltern aus der Zukunft gesehen, die sich von ihrem Sohn verabschieden. Eine sanfte Liebesbeziehung keimt zwischen Odile und Edme auf, in der Zeit während sich die Protagonistin in einem Auswahlverfahren als Mitglied des Conseils bewirbt und auf Herz und Nieren ihre Loyalität und ihr Urteilsvermögen geprüft wird. Das junge Mädchen gerät in eine moralische Zwickmühle, den Freund zu warnen und seinen Tod zu verhindern wäre möglich, aber Odile entscheidet sich für das System und lässt das Unglück geschehen. Bedauerlicherweise kommt sie nach dem tragischen Todesfall mit ihrer Entscheidung nicht zurecht und bricht die Ausbildung ab. In der Zukunft ergreift sie den wenig angesehenen Beruf einer Wachfrau, die genau diese Grenzgänger, die vom Conseil eine Zeitreisegenehmigung erhalten haben, begleitet und ist natürlich aufgrund ihres Dienstes im Osten versucht, erstens in ihre Zukunft zu schauen, diese in der Gegenwart zu ändern und zweitens an der Westgrenze die Fehler aus ihrer Kindheit zu korrigieren. Das ist wirklich ganz großes Kino, wie sie ihre eigene, vorab gesehene furchtbare Zukunft genau trotz der Handlungen zur Vermeidung derselben herbeiführt. ‚Ebenso meisterhaft konzipiert ist, wie der Autor in Miniszenen, die momentan sehr wenig mit dem gegenwärtigen Geschehen zu tun haben scheinen, mit den Figuren aus der Zukunft und Vergangenheit spielt. Das ist sehr komplex und trotzdem logisch, wie die Puzzleteile von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in dem Setting ineinanderpassen und grandios durchdacht letztendlich einrasten. Großartig! Im Finale stellt sich die Frage, ob die Protagonistin ihrem Schicksal entrinnen kann oder nicht. Das Ende ist übrigens sensationell, subtil, zum Nachdenken und lässt Platz für Fantasie! Die Figuren sind in allen Zeitzonen ausnehmend gut gezeichnet, konsistent entwickelt, was ja durch die Sprünge auch gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Im Setting erinnert mich das Werk ein bisschen an Die Frau des Zeitreisenden von Audrey Niffenegger, mir hat aber dieser Roman besser gefallen. Fazit: Ich bin total hingerissen von der Geschichte, dem grandiosen Plot, den Figuren und der philosophischen Aussage und fand auch kein Wort zu viel geschrieben, obwohl ich normalerweise zu starke epische Breite und Ausführlichkeit immer kritisiere. In dem Fall muss ich aber sagen, dass ich solche detailverliebten Rätsel, in Form von Literatur schon immer sehr gerne mochte. Also wärmste Leseempfehlung von mir. Plottechnisch könnte und sollte man den Roman sogar mehrmals lesen, denn oft ergeben winzige Szenen erst in der Nachschau Sinn, wenn im Finale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft inklusive der Zeitschleifen gemeinsam auf dem Tisch liegen.

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