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awogfli

Posted on 8.2.2024

Nach einer Leseflaute mit Werken, die mir nur so mittelmäßig gefallen haben, hat mich diese Geschichte nicht nur komplett abgeholt, sondern auch sehr berührt. Elena Fischer ist ein grandioser Coming-of-age-Roman gelungen, der das Thema Identitätsfindung eines Teenagers und Verarbeitung des Todes der Mutter wundervoll thematisiert, ohne mit kitschigen Szenen um die Ecke zu kommen. Der gesamte Plot ist sehr authentisch und echt, das Werk hat übrigens den Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 meiner Meinung nach wohlverdient. Billie lebt mit ihrer einzigen Bezugsperson, der Mutter Marika, sehr glücklich in relativ prekären Verhältnissen. Marika hat zwei Jobs, wiegt den Mangel an Geld aber mit sehr viel Liebe und Kreativität auf, sodass Billie zwar durchaus realisiert, dass es der Mini-Familie nicht so gut geht, sie aber wenig Probleme sieht. Der einzige Wehmutstropfen in diesem Setting ist, dass Marika immer das Thema wechselt und abwiegelt, wenn Billie Informationen über ihren Vater haben möchte, was Billie aber in der gegenwärtigen Phase der Identitätsfindung ein Anliegen wäre. Plötzlich ändert sich die finanzielle Situation zum Positiven, denn die Mutter hat bei einem Preisausschreiben einen kleinen Geldbetrag gewonnen und der erste Urlaub außerhalb der eigenen Stadt ist plötzlich finanzierbar. Ganz wundervoll werden die Vorfreude und die Vorbereitungen auf dieses Ereignis beschrieben. Einen Tag vor der Abfahrt in die heißersehnten Ferien steht plötzlich die Billie völlig unbekannte Großmutter vor der Türe und will versorgt werden, weil sie krank ist. Der Urlaub ist damit ins Wasser gefallen. Billie arrangiert sich mit der neuen Situation, obwohl sie sogar ihr Zimmer für den ungebetenen Gast räumen muss. Die Konflikte, die zum Zerwürfnis von Marika und ihrer Mutter geführt und die den Kontaktabbruch verursacht haben, brechen nun natürlich auf engem Raum aus, doch Billie bemüht sich trotzdem, eine Beziehung zur Großmutter aufzubauen. Bei einem eskalierenden Streit, den die Großmutter verursacht hat, passiert ein Unfall, durch den Mutter Marika stirbt. Nun hat Billie als einzige Bezugsperson nur noch die sehr fremde Großmutter, die sie mittlerweile in Ihrer Wut völlig ablehnt, weil sie ja auch für den Tod der Mutter verantwortlich ist, sie kann ihr einfach nicht verzeihen. Billie läuft davon und macht sich in ihrer Verlorenheit und Verzweiflung auf die Suche nach dem unbekannten Vater. Sie hat einige Hinweise und alte Fotos in der Wohnung gefunden, die auf eine Ortschaft an der Nordsee hinweisen. Sie schnappt sich das Familienauto und begibt sich in einem großartigen Road-trip auf den Weg zu ihren Wurzeln. Das ist so herzerfrischend beschrieben, wie Billie völlig alleine ihre Unabhängigkeit lebt und sich schrittweise der anvisierten Ortschaft im Norden nähert. Dabei lernt sie auf dem Weg zu ihrem mutmaßlichen Vater die unterschiedlichsten Leute kennen und meistert einige unangenehme Situationen wie Autobeherrschung, Hunger, Frieren, Finsternis, Schlafplatzsuche, Recherche … richtig gut für ihr Alter. Das zwangsläufige Happy End im Roman ist dann auch noch vielschichtiger, als ich es erwartet hätte. Letztendlich werden die Ausgangsziele der Traumaverarbeitung und Identitätsfindung sehr gut erfüllt, es werden aber auch die Verlorenheit, die Verleugnung, die Trauer, die Wut, die Akzeptanz und alle anderen Stadien aus der Sicht einer Jugendlichen auf dem Weg zum Ziel psychologisch konsistent analysiert. Auch sprachlich bin ich restlos begeistert, sehr sensibel wird die Trauer und die Situation des Teenagers mit wundervollen Wortkreationen sehr authentisch gemalt. „Orte sind wie Menschen“, sagte meine Mutter einmal. Irgendwann gewöhnt man sich an ihre Fehler.“ Unter den Blicken meiner Großmutter vergrößerte sich jeder Fehler zu einem Makel, den wir nie wiedergutmachen konnten. "Mein Leben war in zwei Teile zerfallen. In ein Davor und in ein Danach. Davor war meine Mutter die Antwort, danach war sie die Frage." Fazit: Absolute Leseempfehlung, eine herzerwärmende Geschichte einer frühreifen Jugendlichen auf der Suche zu ihrem Selbst.

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