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awogfli

Posted on 21.1.2024

Meine Autorenentdeckung von 2023 Michel Jean hat erneut ein Buch geschrieben und ich bin gleichzeitig enttäuscht und begeistert. Das ist gar nicht so einfach zu erklären, aber ich meine, der Roman und die Figuren sind über weite Strecken nur rudimentär ausgearbeitet, so als sei es ein Erstentwurf, bei dem man noch ein bisschen in die Tiefe gehen muss. Andererseits ist das Finale und der Plottwist im letzten Abschnitt so derartig überraschend, großartig und dennoch glaubwürdig eingeführt, dass ich vom Ende restlos überzeugt war. Ich stelle Euch also erneut wie schon öfter in der letzten Zeit eine Geschichte über Obdachlosigkeit und das Schicksal von Menschen vor, die auf der Straße leben. Diesmal ist die Location in Montréal, was durch den indigenen Namen Tiohtiá:ke auch titelgebend für diesen Roman war. Die Protagonisten sind aus den First Nations, den Ureinwohnern, die in Canada durch die vielen angerichteten Traumata wie Landraub, Zerstörung der Kultur und Lebensgrundlagen des Nomadentums, Kinderraub, Deprogrammierung ganzer Generationen in katholischen Internaten, Missbrauchsopfer in denselben Einrichtungen und viele andere Verbrechen mehr, eine abgehängte, zutiefst diskriminierte und traumatisierte Gesellschaftsschicht sind und deshalb auch viele Indigene als Gesellschaftsversager auf den Straßen landen. Viele diese Geschichten erzählt der Autor detailliert in seinen grandiosen Vorgänger-Romanen Kukum, Maikan und Wap:ke. In der ersten Szene wird der Protagonist Élie Mestenapeo aus dem Gefängnis entlassen, in dem er 10 Jahre abgesessen hat, weil er seinen gewalttätigen Alkoholikervater in einem Notwehrexzess umgebracht hat. Er landet fast zwangsläufig auf der Straße, lernt dort andere Leute aus den First Nations kennen, die aus allen Teilen und einigen verschiedenen indigenen Völkern Kanadas auf den Straßen von Montreal gestrandet sind. Durch die dargestellte Vielfalt der Obdachlosen habe ich auch erstmals begriffen, dass Innu und Inuit kein Synonym sind, sondern unterschiedliche Völker, deren Ursprung sogar in völlig anderen Gegenden liegt. Sorry an Michel Jean und die Community, dass mir trotz Google Recherche diese Feinheiten nicht aufgefallen sind und ich das bei meinen letzten Rezensionen von Romanen des Autors nicht korrekt formuliert habe. Eli lernt also sehr viele Leute kennen, Geronimo, Charlie, den Sänger Coya, die Inuit Zwillinge Mary und Tracy, Nakota Jimmy, der die Obdachlosen mit seinem Kochmobil mit Essen versorgt und viele andere mehr. Diese unzähligen Figuren spielen ständig eine relevante Rolle in Elis Leben, wenn sich ihre Wege auf den Straßen immer wieder kreuzen, aber außer Geronimo und Nakota Jimmy sind die Charaktere so wenig tief und uneindrücklich gezeichnet, dass ich sie öfter verwechselt habe, was aber problematisch ist, denn sie sind nicht nur Beiwerk, das man nicht näher beschreiben muss, sondern treten immer wieder auf und ab und haben Relevanz. Mein Lesefreund Alexander brachte meine Gefühle dabei ganz allgemein und sehr pointiert auf den Punkt: „Sobald ich beginne, trotz konzentrierten Lesens, Figuren zu verwechseln, werde ich ärgerlich. Das passiert leider des Öfteren, weil Figuren nicht differenziert und motiviert genug eingeführt werden, und dann in Beschreibungen nur noch „er, sie, es“ verwendet wird, und es unmöglich wird zu wissen, welches „er, sie, es“ nun gemeint ist. Diese Dinge bringen mich dann auf die Palme.“ Nach einem schweren Winter auf der Straße kann Élie mittlerweile besser mit seinem Schicksal umgehen und rappelt sich Schritt für Schritt sogar einigermaßen auf. Zuerst bekommt er Arbeit bei Jimmy im Kochmobil, dann beginnt er eine Beziehung mit Lisbeth, die gerade ihr Medizinstudium beendet hat. Élies große Liebe wurde adoptiert und kommt aus einem guten Elternhaus, ist aber genetisch auch eine Inuit, die von der damals drogensüchtigen Zwillingsschwester Mary zur Adoption freigegeben wurde. Élie zieht bei seiner Freundin ein, holt mit ihrer Unterstützung den Schulabschluss und die Universitätsreife nach und beginnt zu studieren. Trotz der funktionierenden Beziehung und der Liebe, die er empfindet kann er sich aber nicht ganz öffnen, denn sein böses gewalttätiges Erbe in ihm, das schon seinen Vater getötet hat, kann jederzeit wieder aus ihm hervorbrechen. In ein paar Situationen, in denen er sich oder auch seine Freundin verteidigen muss, bricht diese reflexartige Gewalt plötzlich hervor. Ich wartete nur darauf, dass Élie sein inneres Monster nicht bändigen kann und letztendlich sein ganzes Leben und alles, was er sich bisher aufgebaut hat, wieder gegen die Wand fährt. Doch Michel Jean liefert mit einem Plottwist ein völlig anderes glaubwürdiges Ende. Das hat mich sehr überrumpelt und ich habe nicht mal im Traum an eine solche Wendung gedacht. Lasst Euch von dem sensationellen Finale in der Dramaturgie positiv überraschen. Das ist auch der Grund, der mich mit dem gesamten Roman trotz der weniger guten Performance zwischendurch vollends versöhnt hat. Ach ja sprachlich gibt es sowieso wieder überhaupt nichts zu kritisieren. Fazit: Lesenswert, aber man muss wirklich über weite Strecken ein bisschen durchhalten. 3,5 Sterne aufgerundet auf 4 wegen des Finales.

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