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Ich möchte Euch ein verschüttetes historisches Schmankerl vorstellen: den ersten Roman über einen Androiden aus dem Jahr 1907 vom österreichischen Wissenschaftsjournalisten Leo Gilbert, eigentlich Leo Silberstein. Durch die Nazis wurde dieses Stück grandiose Literatur derart nachhaltig aus der Öffentlichkeit eliminiert, dass bis zu diesem Jahr nur noch drei Exemplare in europäischen Bibliotheken auffindbar waren. Der Herausgeber, Nathanael Riemer, hat den Roman aufgespürt und dankenswerterweise wieder in die Öffentlichkeit gebracht. Das freut mich sehr, denn das Buch ist es wirklich wert, wiederentdeckt zu werden. In der ersten Szene fühlen die Bewohner eines Wiener Mietshauses dem seltsamen Sonderling aus dem letzten Stock detektivisch auf den Zahn. Sie dringen in seine Wohnung ein und werden von Apparaturen angegriffen. Der Mieter, Frithjof Anderson, will den Frieden in der Hausgemeinschaft wiederherstellen und präsentiert den erstaunten Mitbewohnern seine Arbeit. Er hat sehr viele mechanische Roboter konstruiert und arbeitet an einem Androiden. Der Fabrikdirektor samt Ehefrau, seine zwei Töchter, von denen eine Physik studiert und die andere eine wunderschöne blonde Augenweide ist, der Fabrikanteilseigner Woppel und noch ein paar Personen hören aufmerksam zu und begutachten die Werkstücke. Anderson hat sogar so etwas wie das heutige Excel erfunden, aber nur hinsichtlich Funktionalität, „Was-wäre-wenn-Rechnungen“ mit Formeln und variablen Eingaben zu erzeugen, von der Optik her schaut das Kalkulationsprogramm aus 1907 aus wie eine Kaffeemaschine. Das war zum Auftakt ganz großes Kino an Vorstellungskraft und guter Literatur mit ironischem Stil. Anschließend macht die Story bedauerlicherweise eine Vollbremsung. Die Hausgemeinschaft trifft sich während der Sommerfrische in den Bergen von Toblach. Gesellschaftsklatsch, Flirterei, Geschäftsanbahnung, Intrigen. Leider nicht so gut gelungen, dieser Part, obwohl er für den Plot relevant ist, aber sorry, das kann der Schnitzler, den Gilbert hier zu imitieren versucht, einfach am besten, alle anderen stinken da ab, wenn es um perfekte Darstellung von österreichischem Gesellschaftsgeschwätz geht. Die Sommerfrischediskussionen über Maschinen und Philosophie der Bildungsbürger versuchen meiner Meinung nach noch eine weitere literarische Anlehnung, nämlich an Dostojewski und das brachte mich ein bisschen zum Gähnen. Langweilige, bildungsbürgerliche, verkopfte Menschen, die auf intellektuell machen, hochtrabend und larmoyant herumschwadronieren, anstatt sich zu betätigen. Hier scheitert der Autor vorläufig an seinen Vorbildern. Dazwischen passiert aber dennoch etwas, denn der Gilbert kann durchaus Dramaturgie. Der Diener von Frithjof Anderson ist in Nöten und der Erfinder muss zwischenzeitlich abreisen. Hier liefert uns der Autor eine grandiose Beschreibung einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Sobald der Android eingeschaltet ist, packt Gilbert sein eigentliches literarisches Talent aus, das in Dramaturgie, Ironie mit feiner Klinge und Politik- und Gesellschaftskritik liegt. Doktor Frithjof präsentiert den fertiggestellten Androiden einer kleinen Gesellschaft von Investoren. Der Erfinder hat aber einen kapitalen Fehler gemacht, beziehungsweise gewisse Eventualitäten nicht bedacht. Die Maschine, die wie ein Mensch aussieht – mit Haut und Blutgefäßen, – läuft wie ein Perpetuum Mobile 10 Jahre lang ohne Eingriff, sie wehrt sich mit Gewalt gegen die Abschaltung seines Meisters, durch einen Schalter an der Hüfte, läuft davon und taucht in der Stadt unter. Der Android stiehlt Frithjof dann als angeblicher Verwandter Lars Anderson auch noch ein bisschen die Identität, während Meister in die Psychiatrie kommt, weil ihm keiner diese abgefahrene Geschichte glaubt Aber es kommt noch besser. Doktor Frithjof hat dem Androiden Lars politische Ideen einprogrammiert, die vierte Macht des Staates, die gesamte Presse durch Gelder der Industrie zu korrumpieren (Und wir dachten, Inseratenkorruption wurde in der Neuzeit erfunden). Lars ist mit diesem Geschäftsmodell so erfolgreich, dass er zum wohlhabenden Mann wird, als Berater der Regierung fungiert und seinem Schöpfer Frithjof sogar die Verlobte abnimmt, die eitle, geldgierige, wunderschöne, blonde Tochter des Direktors – was für eine Plotidee, gewürzt mit wundervollem politischem Hintergrund. Doch das ist noch nicht das Ende der Demütigungen. Herrlich! Der erfolgreiche Android steigt im Staat auf, wird Minister, von vielen Speichelleckern umgeben und bietet seinem gescheiterten, düpierten, verarmten Schöpfer auch noch generös einen Sekretärposten an. Das hat so viele Goethe Vibes. "Dass ein Mechaniker, der eine Maschine baut, zu seinem Werkstück in dieses komische unglaubliche Verhältnis, geradezu in Abhängigkeit geraten könne, war ihm noch immer unfaßbar. Aber so weit er es faßte, von einem unendlichen Humor. Er kam sich vor wie der Zauberlehrling, der den tückisch gewordenen Besen nicht mehr meistern kann." 😂😂 Am Ende zettelt Lars als Werkzeug der Industrie noch einen Krieg an, den Frithjof verhindern muss. Das Finale ist sensationell und nimmt auch die Stimmung von 1914 in der österreichischen Gesellschaft vorweg, als alle völlig kriegsgeil waren, nicht nur Industrie, sondern auch Presse und Bevölkerung. Sogar das Finale und wie der Erfinder die Vernichtung seiner eigenen Kreatur gegen die gesamte Gesellschaft meistert, ist extrem spannend beschrieben. Auch sprachlich ist der Roman sehr ansprechend, die Ironie wird mit feiner Klinge geführt. Hier wird Gesellschaftskritik auf hohem Niveau präsentiert. Ach ja, über die alte Rechtschreibung muss die Leserschaft hinwegkommen, hier wurde nichts ausgebessert, sondern das Werk im Original belassen. "Frithjof konnte sich nicht finden, dann brach er plötzlich in ein Lachen aus, das fast unheimlich, wie aus einem gestörten Geiste heraus, klang: „Ohne Herz konnte der Android ein berühmter Großindustrieller werden, ohne Hirn sogar Minister! Er eignet sich jetzt trefflich dazu: Keine Ideen und lauter Versprechungen!! […] Von wie vielen Räten, Sekretären, Günstlingen und Mätressen – die nicht einmal seine Mätressen sind – wird er jetzt hin und her geschoben werden.?!“ […] Der Staat konnte am besten von einem Automaten gelenkt werden; der androidale Staat von einem Androiden. Jeder neu gebackene Minister, der sich nur einige Tage im Ministersessel eingewärmt hat, kriegt es bald heraus, daß in einem Staate eigentlich ungeheuer viel automatisch vor sich geht. […] Die Beamten zu deren Lebensnotdurft es gehört, Beamte zu sein, bemühen sich natürlich vor allem, die ungeheure Notwendigkeit ihrer Existenz praktisch darzutun. Und zwar durch zähes Festhalten am eingerosteten Automatismus." Wenn man zudem auch noch bedenkt, wieviele Jahre der Roman schon auf dem Buckel hat und hier technische Möglichkeiten, die es um die Jahrhundertwende um 1900 gab, so grandios antizipiert werden, dann kann ich vor so einer korrekten, konsistenten, grandiosen Imagination nur den Hut ziehen. Hier stimmt auch logisch technisch alles, was damals mit den Möglichkeiten der Zeit als Science Fiction angedacht werden konnte. Zudem geht das gesellschaftlich-politische Lehrstück des Plots, weit über eine technokratische Sci-Fi-Erzählung hinaus. Fazit: In der Endabrechnung ein grandioses historisches Werk, es braucht nur ein bisschen Geduld, weil die Geschichte zu Beginn einfach nicht in die Puschen kommt. Leseempfehlung von mir und den Rat dranzubleiben, denn es lohnt sich wirklich.