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hasirasi2

Posted on 3.10.2023

Das Haus der blauen Kinder „Sie werden sehen, die sind alle blau, die Herzkranken.“ (S. 8) Kurz vor Weihnachten wird der 14jährige Wilhelm von seiner Mutter aus Berlin ins Sanatorium Gottleuba bei Dresden gebracht. Erst vor wenigen Wochen wurden bei ihm schwere Herzprobleme festgestellt, aber selbst in der berühmten Charité hat man nicht herausfinden können, welche Krankheit er hat. Doch sie scheint galoppierend voranzuschreiten, niemand weiß, ob er Weihnachten noch erlebt. In seinem Viererzimmer, dass er sich mit Milo, Edgar und Bruno teilt, ist er der Jüngste und augenscheinlich Gesündeste, den ihm fehlen (noch) die typischen blauen Lippen. Und er ist der Unternehmungslustigste, denn „Ich will Abenteuer erleben und nicht vor Langeweile sterben.“ (S. 63) Damit manövriert er sie immer wieder in gefährliche Situationen, aber die vier Freunde haben endlich wieder Spaß am Leben. Doch in einem Heim, das von starren Regeln geprägt ist, ist Individualität unerwünscht ... Die Geschichte der Jungen ist sehr berührend, denn sie sind dem Tod geweiht und wissen das auch. Jeder Tag ist ein Geschenk. Die Ärzte können ihnen nicht mehr helfen, ihre Leiden durch die Kur nur lindern und ihnen dadurch vielleicht etwas mehr Lebenszeit schenken, in der sie allerdings nicht viel von dem machen dürfen, was Jungs in dem Alter Spaß macht. „Du wirst tot sein, mein Freund. Wie wichtig sind dir diese Regeln, wenn es um eine Abenteuer geht?“ (S. 80) Für Wilhelm ist es besonders schlimm, weil er erst seit kurzem krank ist. Er hat Angst, ist zum ersten Mal von seiner Mutter getrennt und darf nicht mit ihr telefonieren, dabei macht er sich aus einem ganz bestimmten Grund Sorgen um sie. Und er entdeckt die Liebe, erst zu einer Schwesternschülerin und durch sie zu Büchern. Edgar ist schon 18, verlobt und hat heimlich Hanteln in die Kur geschmuggelt, um weiter trainieren zu können. Denn wenn er schon sterben wird, will er dabei wenigstens gut aussehen. Bruno ist eine echte Leseratte und hat unzählige Bücher dabei, um in ihnen die Abenteuer zu erleben, von denen er nur träumen kann: „Sie helfen mir, viele Leben zu haben.“ (S. 17) Milos ist dunkelhäutig, weil sein Vater, den er nie kennenlernen durfte, aus Mosambik stammt. „Mein Vater wurde in sein Land zurückgeschickt, bevor ich geboren wurde. Er durfte meine Mutter nicht lieben. Es war bei Strafe verboten. Ich bin ein verbotenes Kind.“ (S. 19) Ralf Günthers „Winterherz“ weckt bei mir sehr ambivalente, bittersüße Erinnerungen. Ich bin in Dresden geboren und aufgewachsen und war als Kind jeden Sommer (insgesamt 10- oder 11-mal) für jeweils 6 Wochen in Bad Gottleuba zur Kur. Ich erkenne die beschriebene Treppe und die Gebäude wieder und habe genau das erlebt, was der Autor beschreibt. Die Kuren fanden getrennt nach Geschlechtern statt, es gab nur über Briefe Kontakt zu den Familien und alles unterlag extrem strengen Regeln, an die man sich gefälligst zu halten hatte. Kein schönes Klima für Heranwachsende. Die mehr oder weniger versteckte Kritik am DDR-Regime kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Gebäude waren bei uns allerdings alle wieder aufgebaut und ich glaube, die erwähnte Zisterne war das kleine Schwimmbecken im Keller des Haues, in dem ich immer gewohnt habe. Und wir mussten uns die Wannen für die Schwefel- und Moorbäder nicht mehr teilen 😉 ... Mein Fazit: Ein herzzerreißende Weihnachtsgeschichte über Freundschaft, über Leidensgenossen, bei den das Sterben zum Alltag gehört, über ihre gemeinsamen Träume und (vielleicht letzten) Abenteuer …

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