awogfli
Hundertlagig genähte, viel zu große Alterspatchworkdecke in Regenbogenfarben Dass dieser Roman episch breit wird, ist auf den ersten Blick erkennbar, denn mit dem Buch kann man Leute erschlagen. Nicht erwartbar war aber, dass hier nicht vordergründig Irvings Erzähltalent eskaliert, sondern schöde Redundanzen Programm sind. Diese existieren nicht nur einmal im Plot, sondern mindestens dreißig noch dazu schlechte Szenen werden zwanzigmal während der Geschichte in der Nacherzählung wieder hervorgezerrt. Das klingt nicht nur wie drei Dutzend demente Menschen, die dieselbe Story immer und immer wieder erzählen, das gipfelt schon in übelster Leserquälung. Aber hier ist noch immer nicht genug mit den Redundanzen, so etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt, Irving erzählt auch die Ringergeschichte aus Garp und wie er die Welt sah nochmals in einer Variation nach, er plagiiert und remixt seine eigenen Werke. Was für eine Verschwendung meiner wertvollen Lesezeit, muss ich hier konstatieren, denn trotz meines mittleren Lesetempos habe ich fast zwei Wochen für die mehr als tausend Seiten gebraucht. Ansonsten ist natürlich nicht alles schlecht in diesem Alterswerk, ganz das Schreiben verlernt hat Irving selbstverständlich nicht. Aber nun zu den Details: Die Affinität des Autors zu Österreich und dem Schifahren kommt sehr stark durch. Da ich mit sechs Jahren (für Österreich sehr spät) Schifahren und mit acht Jahren erst Schwimmen lernte, ist das natürlich ganz mein Metier, zudem liefen bei uns auch jedes Schirennen und Schisprung am Wochenende im Fernsehen. Insofern machte mir das Namedropping und die Wintersportfigurenwuselei auf den ersten 150 Seiten wenig aus, da ich sogar die erwähnten Familien aus dem TV kenne. Leute mit wenig Liebe zu diesem Sport, werden sich wahrscheinlich bereits in dieser Phase tödlich langweilen. Bis Seite 200 passiert fast gar nichts Essentielles. Erst bei der Hochzeit der Mutter mit dem geschätzten Stiefvati, die Protagonist Adam miteinander verkuppelt hat, nimmt die Story endlich mit einem Paukenschlag an Fahrt auf, dann ist Irving wieder in seinem Element und lässt die Katastrophen und Hoppalas wie einen Hurricane an einem Punkt der Ereignisse auf seine Figuren los. Opa wird bei der Feier vom Blitz erschlagen, Adam findet raus, dass seine Mutter lesbisch ist, indem er sie mit der Brautjungfer im Bett erwischt und stellt fest, dass die ganze Verbindung eine Alibibeziehung ist, eben nicht nur, weil sein Stiefvater schwul sein soll, wie die bösen, bigotten Tanten schon die ganze Zeit ätzen und vermuten. Dann wird das bewährte Garp Rezept ausgepackt, peinliche Penisverletzung beim ersten Geschlechtsverkehr. Die Dimension der sexuellen Hoppala-Erfahrungen ist in diesem Roman zu Beginn sehr ungewöhnlich und tendiert anschließend während der gesamten Geschichte leider ins Bösartige, weil die Ereignisse in der Nacherzählung ständig wieder hervorgezerrt und die Frauen auch noch von der Familie verhöhnt werden: Eine fette Freundin, die sich vor dem Gespenst des Großvaters in die Dusche flüchtet, wird dort eingequetscht und es kam zu nix, eine flog die Stiege hinunter, weil sie einen Krampf im Bein hatte und es kam zu nix, dann die Penisverletzung beim Akt, ergo Coitus interruptus, mit einem Gips in der Extase verprügelt. Bald kommt raus, dass ein Großteil der Familie nicht nur aus Lesben und Schwulen besteht, sondern es wird noch mehr aus dem Spektrum LGBTQ mit in den Plot hineingenommen. Der Stiefvater Adams, namens Elliot, entpuppt sich als Crossdresser und später als transsexuell. Ein kluger zeitgeistiger Schachzug des Autors, solche aktuellen Themen zu verwenden und da kann sich Irving auch gleich mit seinen sehr bevorzugten sexuellen Inhalten beschäftigen, die er auch schon in älteren Werken sehr gut zu beschreiben wusste. Bei all der Beschwörung von Inklusion und Toleranz in diesem Setting stößt es mir sauer auf, dass keine einzige weibliche heterosexuelle Figur irgendwie positiv konzipiert und gezeichnet ist. Die Demütigung von Adams Partnerinnen geht weiter und wird immer wieder von den ach so diskriminierten Protagonisten im Namen der Diversität hervorgezerrt. Okey die zwei bösen, bigotten Tanten als Kontrapunkt müssen sein, aber bei Adams Freundinnen gibt es neben der Fetten, der Gelähmten, dem Penisbruch und der Eingegipsten noch eine Bluterin, die Myome hat und immer alles vollblutet, eine ältere Freundin, die beim Erscheinen des Gespenstes des Großvaters während des Verkehrs vor Schreck den Darm entleert und uriniert und so weiter. Diese inflationäre Häufung peinlicher und bösartiger Darstellungen von Hetero Frauen in der Figurenkonzeption ist nicht nur sehr fies, sie wiederholen sich auch und sind fast das Zentrum der Redundanzen. Denn immer wieder werden diese uralten Missgeschicke von der LGBTQ-Familie zum Amüsement hervorgezerrt und wird durch Bashing der Exfreundinnen permanent abgelästert. Genauso habe ich mir die Toleranz einer diskriminierten Minderheit NICHT vorgestellt, denn Toleranz ist ja keine Einbahnstraße. Nebenbei wird natürlich in Dialogen der Familie die Klaviatur der Opferpyramide des intersektionalen Feminismus ordentlich bespielt, da wird ernsthaft diskutiert, wer denn jetzt die diskriminierteste Gruppe von allen ist: ledige Mütter, Lesben oder Transsexuelle. Nicht falsch verstehen, wir reden hier von einer bevorzugten weißen, sehr wohlhabenden Oberschicht, die sich alle nicht zu schade sind, von ihren bigotten, gehassten, bösartigen Verwandten, die sie verachten, unzählige Häuser zu erben. Die noch nie einen Tag wirklich arbeiten mussten, um sich selbst zu versorgen, die immer Häuser überall besitzen, in denen sie unterschlüpfen können, die nur arbeiten müssen, wenn es ihnen Spaß macht und sich durch die Welt treiben lassen können. Leider wird hier von Irving kein einziges Mal eine kleine kritische Reflektion eingebaut, zum Beispiel in Form einer sympathischen Figur eines oder einer wirklich unterprivilegierten Schwarzen aus der Arbeiterklasse. Das Ganze eskaliert noch viel mehr, denn erstaunlicherweise sind alle LGBTQ-Protagonisten sehr übergriffig und boshaft bei völlig fremden Leuten, die sie als konservativ einschätzen, die eigentlich primär zuerst nur konsterniert sind, weil sie von ihnen ungewollt berührt und körperlich in die Zange genommen werden. Diese Grenzverletzungen passieren mehr als einmal. Bei solchen durchaus verständlichen Irritationen faseln die Figuren der Familie ständig von unterdrücktem Hass und Diskriminierung, wenn sich die Leute nicht ungewollt von Fremden anfassen lassen wollen, während sie selbst Kirchen anzünden wollen, wenn sie ihren Willen nicht kriegen und eine Exfreundin von Adam verprügelt werden soll. Das geht sogar so weit, dass nach Meinung der Familie Ronald Reagan den Tod verdient hat. Okey, man muss den republikanischen Präsidenten Reagan durchaus kritisieren, denn empathisch war er in der AIDS-Krise tatsächlich nicht, aber dass er den Tod verdient hätte, weil er was machen hätte können. Also wirklich! Kondom überziehen, kann nicht Ronnie machen. Da ist sich Irving dann auch nicht zu blöd, indem er als Gegenbeispiel das schweizerische Wengen als AIDS-freies Eldorado herbeifantasiert, das Ende der 80er Jahre noch nichts von der Seuche gehört hat. Bei wem hat Irving da eigentlich recherchiert? Bei 65-jährigen sexuell inaktiven Sennerinnen? Was für ein Mumpitz! Ich habe von 1987-1990 in der Schweiz und speziell im Berner Oberland, in einem touristisch relativ unerschlossenen Nebental von Wengen gearbeitet. Dort war AIDS unter dem Servicepersonal das Riesen-Thema. Während der amtsärztlichen Untersuchung, die für eine gültige Arbeitsbewilligung unumgänglich war, wurden neben einem TBC-Röntgen und einem Bazillenausscheider noch weitere Untersuchungen durchgeführt. Wir mussten uns in Buchs (Sanitätsstation Österreich/Deutschland/Schweiz) splitternackt ausziehen und dann wurden wir im Pulk durch die Stationen getrieben. Unsere Haut wurde abgesucht und ein kurzer gynäkologischer Blick geworfen. Da dieses Prozedere mit den vielen Menschen in Buchs so demütigend war, fuhr ich ab dem zweiten Mal quer durch das Berner Oberland nach Brigg an die italienische Grenze und konnte dort entspannt ohne andere Patienten mit der Amtsärztin über diese Untersuchung plaudern. Na was glaubt Ihr, haben die alle auf der Haut der einreisenden Gastarbeiter gesucht? Genau, Karposi-Sarkome. Ansonsten wird die AIDS-Krise, die LGBTQ-Community New Yorks und die politischen Zerwürfnisse der 80er Jahre in den USA zwar extrem tendenziös aber recht anschaulich beschrieben. Die Drehbücher, die in den Plot integriert waren, haben mich ebenso gestört, vor allem im Lesefluss. Zuerst wollte ich sie überblättern, aber dann passierte in Aspen unheimlich viel in diesen zwei Abschnitten. Ursprünglich dachte ich noch, das wäre die Fiktion des Schriftstellers Adam, aber da rauskam, dass alle Szenen, so passiert sind, waren sie relevant für den Plot, der ab diesem Zeitpunkt dann zwar wieder rasant, aber gehörig mit Unwahrscheinlichkeitsantrieb durch die Geschichte schlittert. So viele Dramen mit Verwicklungen und Toten auf einmal und in so kurzer Zeit kumuliert, sind genauso wie die inflationären Sexmissgeschicke der Freundinnen einfach total unrealistisch. Die vielen Gespenster die sich im Hotel Jerome herumtummeln, nerven unheimlich, aber sie ergeben letztendlich irgendwie Sinn. Das Finale des Romans ist dann aus der Kategorie: leider verpufft. Fazit: Redundanzen hasse ich am meisten und wenn das Werk dann dadurch auch noch viel zu lang ist, fühle ich mich betrogen. Ich habe es bereut, so viel Lesezeit in diesen Roman investiert zu haben, den ich ein bisschen unter Mittelmaß einordne. Es ist eigentlich sehr schade, dass mein bisher ausschließlich positiver Eindruck vom Autor derart revidiert werden muss. Mein Tipp: Lest einen anderen Irving. 2,5 Sterne sehr wohlwollend auf 3 aufgerundet, aus Sentimentalität zum Irving.