Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 27.7.2023

Schon lange habe ich mir ein kompaktes Sachbuch zum Thema: Historische Seuchen im Kontext zu Corona gewünscht und hier ist es. Ich bin ja auch eine, die in einer belastenden, stressigen Situation nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern eher immer mehr wissen will. Insofern habe ich vor allem zur Spanischen Grippe (1918-20) und der Russischen Grippe (1889-90) schon während des Lockdowns sehr viel im Internet recherchiert. Deshalb waren für mich einige Erkenntnisse nicht neu, aber ich finde es nichtsdestotrotz sehr wichtig, dass sie hier in diesem Werk einmal kumuliert zusammengetragen werden. Ich erachte das Sachbuch als sehr wesentlichen Beitrag, habe aber dennoch ein paar göbere Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge, was aber meiner wärmsten Leseempfehlung dennoch überhaupt keinen Abbruch tut. Im ersten Kapitel der Medizingeschichte hätte die Autorin eine populärwissenschaftlichere, einfachere Sprache wählen sollen. Da tummeln sich sehr viel Medizin-Fachvokabeln, die nicht ausreichend und übersichtlich definiert werden und verschachtelte Satzkonstruktionen. Diese beiden Schwächen in Kombination sind gar nicht gut und ein bisschen überfordernd für die Leserschaft. Bei jeder Masterthese gibt es die Regel, vor allem zu Beginn ausführlich, übersichtlich und klar zu definieren und am Anfang des Werks nicht zu überfordern. Die Seuchengeschichte im Anschlusskapitel ist sprachlich wohltuend einfacher und dieser Stil zieht sich dann bis zum Ende durch. Hier werden spannende Informationen vermittelt, zum Beispiel, dass die Russische Grippe von 1889/90, seit ein paar Jahren als erste Coronapandemie identifiziert wurde. Diese historische Seuche ist auch insofern sehr interessant, denn sie traf im Gegensatz zu anderen Pandemien auch die höheren, gut genährten, hygienisch und medizinisch gut versorgten Gesellschaftsschichten. Wahrscheinlich ist sogar Queen Victoria an der „Russischen „Grippe“ gestorben. Das steht nicht in diesem Buch, aber ich habe es bei meiner Recherche während des Corona-Lockdowns herausgefunden. Was inhaltlich total interessant und spannend vermittelt wird, weist jedoch eine irgendwie undurchsichtige logische Struktur auf. Die Krankheiten werden in folgender Reihenfolge thematisiert: Zuerst in einem kürzeren Abriss Pest, Typhus, Cholera, Russische Grippe (erste Coronapandemie), AIDS, SARS. MERS fehlt bedauerlicherweise völlig. Dann in einer ausführlicheren Auseinandersetzung wieder Pest, Pocken, Influenza – Spanische Grippe 1918-20. In den umfangreichen Kapiteln der drei Pandemien, werden Ausbruch, Verlauf, medizinische Gegenmaßnahmen, soziale Gegenmaßnahmen, politische und religiöse Instrumentalisierung und andere Faktoren genau analysiert. Das war sehr gut gemacht. Ein paar interessante Aspekte möchte ich Euch hier kurz verraten, zum Beispiel hatte die Judenverfolgung in der Zeit der Pest auch einen objektiven Anlassfaktor, denn Juden waren wegen ihrer religiösen Hygienevorschriften tatsächlich weniger von der Seuche betroffen. Damals wusste man natürlich nicht, warum und wie die Ansteckung funktioniert, sondern konstatierte nur, dass die Juden nicht heimgesucht wurden. So wurden sie sehr schnell auch zu Tätern und Brunnenvergiftern umgemünzt, um von der Hilflosigkeit der Medizin, Politik und der Kirche abzulenken. Die Pocken werden im Sachbuch deshalb so genau betrachtet und analysiert, denn diese Krankheit wurde erstmals 1796 mit einer Impfung bekämpft und letztendlich 1979 auch gänzlich ausgerottet. Das Thema stellt somit das Paradebeispiel im Umgang mit medizinischer Bekämpfung einer Pandemie mit Vakzination, mit Pflichtimpfung und Umgang mit Impfgegnerschaft dar. Der Aufstand der Tiroler unter Andreas Hofer war übrigens unter anderem auch ein Impfprotest. Ein weiters sehr interessantes Kapitel ist die Spanische Grippe, die nur deshalb so heißt, weil es im neutralen Spanien keine Zensur gab und die Zeitungen des Landes als einzige über die Pandemie schreiben durften. Hab schon während Corona recherchiert, dass die Influenza eigentlich in Kansas USA ausbrach, und ein Seuchenarzt versuchte, die in den Weltkrieg eintretenden Soldaten in Quarantäne zu schicken und die Verladung auf die Schiffe nach Europa zu verhindern. Da wäre der ganzen Welt viel Leid erspart geblieben, aber aus kriegstechnischen Gründen wurde das sinnvolle medizinische Vorgehen abgewürgt und die sich abzeichnende Pandemie vertuscht. Zudem findet sich im Buch auch die Vergleichsstudie zwischen Philadelphia und St. Louis, in dem eine Stadt, nämlich St. Louis Kontaktbeschränkungen verordnete und öffentliche Versammlungen verbot. Im Gegensatz zu den Stadtverantwortlichen in Philly, die auch noch einen Umzug unbedingt durchdrücken mussten. Hier gibt es genaue historische Zahlen zu den Auswirkungen der Grippe-Maßnahmen beider Städte auf Infizierte und Mortalität. Am Ende werden auch noch alle Maßnahmen historischer Pandemien sehr sachlich in Beziehung zur Corona gesetzt und man realisiert, dass die damit auftretenden Probleme nicht erst seit 2020 existieren, sondern in jeder einzelnen Seuche schon politisch, medizinisch und gesellschaftlich relevant waren. Ein sehr guter Ansatz, aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. "Gefragt ist vielmehr die medizinhistorische Expertise zur Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit der aktuell grassierenden Pandemie. Politik und Gesellschaft sollen aus der Geschichte Lehren für die aktuellen Herausforderungen der Pandemie ziehen. […] Diese Funktion wurde der medizinhistorischen Forschung schon mit Auftreten der Spanischen Grippe (1918-1920) zugeschrieben." Schlussendlich muss ich auch noch das ausführliche Anmerkungs- und Quellenverzeichnis lobend erwähnen. Hier finden sich nicht nur alle nachvollziehbaren Verweise, sondern auch umfangreiche Zusatzinformationen zum Inhalt eines jeden Kapitels. Die umfassende Pandemie Tabelle ausgehend vom Jahr 165 nach Christus bis zur heutigen Zeit ist auch sehr aufschlussreich. Fazit: Trotz der kleinen strukturellen Mängel und des etwas missglückten ersten Kapitels sehr lehrreich. Von mir gibt es auf jeden Fall eine Leseempfehlung. Wer sich dem Thema Corona und Seuchen der Vergangenheit sachlich annähern will, ist hier bestens bedient.

zurück nach oben