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awogfli

Posted on 11.7.2023

Die Königin der minimalistischen Romane Amélie Nothomb hat wieder einmal zugeschlagen. Manchmal feiere ich sie, weil ich das elendige, episch breite Herumgeschwafle mit detailliertesten Schilderungen von jeder Nebenfigur und inflationäre Redundanzen wie die Pest hasse, aber manchmal sind eben solche sehr kurz und knapp gehaltenen Werke einfach viel zu begrenzt, als dass sie tatsächlich funktionieren. Bei dem Roman war das bedauerlicherweise der Fall, denn der Plot spannt sich diesmal über 28 Jahre eines Lebens, und die Lücken, beziehungsweise die gewollten Auslassungen, lassen Einiges in der Figurenentwicklung vermissen. Was bei vielen Storys der Autorin eine Wohltat ist, wie zum Beispiel bei Liebessabotage, Der japanische Verlobte und Mit Staunen und Zittern, dürfte hier mal ein bisschen ausführlicher entwickelt werden. Habe ich, Kämpferin gegen das Geschwafel, das wirklich gesagt 😀 ? Die Story ist trotz der Lücken sehr gut konzipiert, insbesondere wenn Nothomb über Rotten von kleinen Kindern schreibt, ist das immer wieder köstlich zu lesen. Patrick, Halbwaise, der von seiner Oma sehr verwöhnt und bemuttert aufgezogen wird, weil sich die Mutter nicht richtig ums Kind kümmern will, soll, um nicht ganz verweichlicht zu werden, in den Sommerferien zu den Nothombs in die Ardennen geschickt werden. Dort beim Großvater väterlicherseits, ist eine ganze Kinderbande am Werk, es gibt wenig zu Essen und totalen Darwinismus. Patrick liebt dieses wilde, freie, entbehrungsreiche Leben in der Familie seines verstorbenen Vaters. Großartig wird der Kampf um die Essensportionen am Tisch geschildert, aber auch die unbeaufsichtigten Spiele im Wald und der Zusammenhalt der Kids. Als Patrick völlig abgemagert, verlaust und hungrig im Herbst zurück nach Hause kommt, ist die gluckende Großmutter komplett konsterniert und will das Kind nie wieder zu den Nothombs schicken, aber Patrick insistiert sehr beharrlich, auch die Weihnachtsferien dort zu verbringen. Letztendlich überlebt er nicht nur auch dieses Bootcamp, er ist glücklich und die Großmutter väterlicherseits erweckt zudem durch das Geschenk eines Buches noch die Liebe des kleinen Jungen zur Literatur und zu Rimbaud. Anschließend stürmt die Autorin wie ein D-Zug durch die Schulzeit und die diplomatische Ausbildung des Protagonisten, und als Leserin sah ich mich plötzlich innerhalb von weniger Seiten in eine Situation geworfen, in der Patrick als Geliebter, Ehemann, Familienvater, Diplomat, belgischer Honorarkonsul in Stanleyville, in der Republik Kongo von Rebellen zusammen mit 1500 anderen Geiseln gefangen gehalten wird. In seiner politischen Funktion beweist unser Protagonist mitunter erstaunliches Verhandlungsgeschick und manchmal kann er gegen die Exekution von Geiseln durch Argumente nichts ausrichten. In dieser Phase des Romans klafft nun die schon eingangs erwähnte Lücke, denn seine Talente hat Patrick ja nicht nur in den ausführlichen Beschreibungen im Umgang mit der Kinderrotte seines Großvaters geschmiedet, sondern sicher auch in seiner Ausbildung und anderen viel zu wenig beschriebenen Lebensstationen erworben. Hier fehlt enorm viel Kontext in der Figurenentwicklung. Fazit: Zwar interessant und lesenswert, aber zu kurz und bündig, ich wundere mich sehr, dass ich das schreibe, aber 100 Seiten MEHR hätten diesem Roman sehr gutgetan.

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