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awogfli

Posted on 5.7.2023

Bin ich froh, dass ich Jessie Greengrass mit diesem Roman noch eine Chance geben habe, denn er ist meiner Meinung nach grandios. Mit ihrem letzten Buch Was wir voneinander wissen hatte ich enorme Schwierigkeiten, denn der Sprachstil war mir zu überambitioniert und der Plot antiseptisch unverknüpft. Nun hat sich die Autorin jedoch selbst übertroffen, sie schreibt eine sehr ungewöhnliche, innovative Dystopie, in der die Welt untergeht, aber dies wird nicht mit Action und Überlebenskampf bis aufs Messer zelebriert, sondern mit leisen Zwischentönen beschrieben. Soo gut! Eine sehr nahe, sehr realistische Zukunft wird also konzipiert, in der unsere Welt, respektive die Menschheit, infolge des Klimawandels nach und nach untergeht. Die Protagonisten in Form einer Klima-Aktivistenfamilie, die Eltern beide aus dem universitären Bereich, haben jahrelang gewarnt, versucht, die Öffentlichkeit mit Vorträgen, Artikeln und Aktionen aufzurütteln, aber nichts wurde unternommen. Francesca hat sich trotz der Gesamtsituation entschieden, beziehungsweise aus Egoismus korrumpieren lassen, ein Baby zu bekommen, kann Pauly aber aus Angst um die Welt und Gesellschaft keine Mutter sein und ihm Sicherheit geben. Im Gegenteil, sie überträgt ihre Paranoia, die berechtigten Befürchtungen und die drohenden Katastrophenprognosen auf die gesamte Familie und ist ständig unterwegs, um die Welt zu retten. In sehr sensiblen Tönen wird hier die Problematik einer veritablen Beziehungsstörung in der Familie thematisiert. Ausbaden muss das ihre Stieftochter Caro, die sich schon in jüngsten Jahren um Pauly kümmern und als Ersatzmutter einspringen muss. Interessant ist auch die Rolle des Vaters, er supportet ausschließlich seine Frau, das völlig überforderte kleine Mädchen Caro ist mit dem Baby Pauly auf sich alleine gestellt. Alles in allem also eine höchst dysfunktionale Familie vor dem Hintergrund des Untergangs der Menschheit. Doch ganz so gleichgültig gegen ihre Kinder, wie es scheint, waren die Eltern dann doch nicht. Als beide bei einer Sturzflut während einer Klimakonferenz sterben, kommt heraus, dass sie für Pauly und Caro im Sommerhaus minutiös ein Refugium eingerichtet haben, das die Klimakatastrophe überdauern soll. Warum Caro dies nach und nach realisiert, ist der Umstand, dass die Eltern für wirklich alles gesorgt haben, auch für ausreichend Kinderkleidung für die beiden. Zudem haben sie das sehr abgelegene, versteckte und weit über dem Meeresspiegel gelegene Land auf Selbstversorgung eingerichtet, mit Mühle, Generator, Tieren, Booten und Medikamenten. Dass die Klimaaktivisten befürchteten, nicht zu überleben, wird auch bald klar, denn sie besorgten Pauly und Caro zwei Mitbewohner, Sally und ihren Großvater. Nun wird erzählt, wie dieses Quartett lebt, wie die Menschen im Dorf nach und nach verschwinden, die Sommertouristen nicht mehr kommen, wie sie sich selbst versorgen, mit allen Problemen, wie der Kälte im Winter, der anstrengenden Nahrungsmittelproduktion und dem sorgsamen Umgang mit den Vorräten, die nicht mehr erzeugt werden können. Die Katastrophe bricht nicht mit einem Paukenschlag ins Leben der Protagonisten ein, sondern es passiert ein ganz langsames Fade-Out. Es scheint fast so, als wäre diese Wohngemeinschaft wieder bei der Gesellschaft der ersten Menschen in Europa angekommen, selbstverständlich mit ein paar Luxusvorräten, wie Antibiotika und Morphium ausgestattet. "Das ganze komplizierte System der modernen Welt, das uns aufrechterhalten, von der Erde entfremdet hatte, bröckelte nun, machte uns wieder zu dem, was wir einst gewesen waren: frierend, voller Angst vor dem Wetter und voller Angst vor der Dunktelheit. Während wir alle irgendwie beschäftigt gewesen waren mit diesen ganzen Nichtigkeiten, die in Summe unser Leben ausmachten, hatte sich die Zukunft in die Gegenwart geschlichen – und obgleich wir gewusst hatten, dass es kommen würde, reagierten wir jetzt, da es so weit war, mit überwältigter Überraschung, so, wie wenn man morgens aufwacht und erkennt, dass man einst jung gewesen sein mochte, es aber nun, praktisch über Nacht, nicht mehr war." Allmählich wachsen alle in ihre Rolle hinein, finden sich in die neue Situation, wie es Menschen schon seit Urzeiten konnten, und leben ein sehr einfaches Leben, das relativ gemächlich abläuft und gelegentlich durch den Kampf gegen die Natur unterbrochen wird. Opa Grandy stirbt auch völlig unspektakulär an einer Krankheit, die durch sein Alter verursacht wird. Das war übrigens jener innovative Aspekt des Romans, der mir neben der grandiosen Figurenentwicklung am meisten gefallen hat. Dass dieser Untergang mit so vielen Zwischentönen beschrieben wird. Das Beziehungsgeflecht zwischen allen Figuren wird tief und grandios analysiert. Wir lernen Caro sehr intensiv kennen, überwinden ihren Groll gegen die Eltern, leben mit ihren Überforderungen und den daraus resultierenden psychischen Traumata, sind live bei Reibereien zwischen Caro und Sally dabei, die aber überwunden werden. Auch Sally, die letztendlich alles zusammenhält und Pauly werden sehr gut skizziert, ebenso wie Grandy, der vor seinem Tod sein Wissen über Natur und Nahrungsmittelproduktion noch weitergeben kann. Das Ende ist offen und trotzdem tröstlich. Fast scheint es so, als ob Jeff Goldblums Satz aus Jurassic Park: „Die Natur findet immer einen Weg“ auch auf die Menschheit anzuwenden wäre. Fazit: Begeisternd, gar nichts zu kritisieren! Absolute Leseempfehlung und schon wieder ein Buchstoffhöhepunkt!

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