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awogfli

Posted on 21.6.2023

Wow! schon wieder ein sehr innovativer Roman von einer österreichischen Autorin, auf jeden Fall zumindest eine Geschichte aus einem neuen Blickwinkel, den ich so bisher noch nie gelesen habe. Es geht um ein kleines Mädchen mit besonderen Bedürfnissen, das wahrscheinlich eine Entwicklungsstörung aus dem Autismus-Spektrum aufweist, was aber nie genau thematisiert und aufgelöst wird. Der ungewöhnliche Aspekt ist darin begründet, dass die Erzählperspektive konsequent aus Innensicht des Kindes durchgezogen wird. Wir nehmen als Leserschaft die Welt, die Mutter, den Onkel, die Schule, die Therapeuten, Ärzte und alle anderen Interaktionspartner aus der Sicht des Kindes wahr. Ob dieser Blick jetzt authentisch ist, kann ich nicht beurteilen, denn da habe ich viel zu wenig Erfahrung mit dem Thema, aber die gesamte Erzählung klingt zumindest konsistent und authentisch. Ich habe auf jeden Fall sehr viel gelernt. Alleine der Umstand, dass Alex, unsere kleine Protagonistin, seit frühester Kindheit immer von Hitzewallungen gepeinigt ist, sie Berührungen als brennenden Kontakt und normale Spielkontakte von Kindern als übergriffig, als „in sie hineinlaufen“ fast wie bei einem Unfallzusammenstoß empfindet, ist schon eine neue Sichtweise. Wenn Alex sich überfordert fühlt, weil beispielsweise zu viele Menschen an einem Ort sind, es zu laut ist oder abrupte unerwünschte Veränderungen passieren, wie ein Zimmer wird gestrichen, dann kommt die Muräne, die sich unter einem Stein in Alex Kopf versteckt, hervor. Daraus resultieren Symptome von Kopfschmerzen bis zu einem so heftigen Migräneanfall, dass Alex erbrechen muss. Auch Mutter Nina und Onkel Patrick, die manchmal überfordert sind, aber sich redlich bemühen, werden aus der Sicht des Kindes Alex liebevoll geschildert mit all ihren Problemen, Unzulänglichkeiten und Bemühungen. Nina hat zudem auch noch andere Probleme, denn sie ist berufstätige, alleinerziehende Mutter, die eben auch nicht immer auf Grund der Arbeitszeiten, des Stresses und wegen Betreuungsproblemen, die durch die speziellen Bedürfnisse von Alex des Öfteren natürlich eskalieren, sich völlig auf die Bedürfnisse ihrer Tochter einstellen kann. Beispielsweise der Stress, wenn Alex in ihren Hitzewallungen die Schuhe partout nicht anziehen will, aber Nina rechtzeitig bei der Arbeit sein muss und das Kind in der Kita voll angezogen abgeben muss. Nina ist übrigens nie gewalttätig, sondern eben manchmal nur bestimmt und im Gefühlsleben von Alex natürlich ein bisschen übergriffig, was aber ganz normale Berührungen sind. Sehr bildhaft beschreibt uns die Autorin die Innensicht von Alex. ihre Probleme, ihre außerordentlichen Begabungen, beispielsweise dass sie schon im Kindergarten lesen und detaillierte Stadtpläne und Zeichnungen aus der Vogelperspektive anfertigen kann. Aber auch die ersten Problemlösungsstrategien der Protagonistin werden in bildhaft kindlicher Sprache thematisiert: Wie sie ihre Kopfschmerzen und die Migräne auf Rat ihrer Therapeutin durch Ablenkung der Gedanken in den Griff bekommt und wie sie sich in der Schule nach und nach zu integrieren versucht, Kontakte zu anderen Kindern zuzulassen, Konversation zu betreiben und Freunde zu finden. Durch eine selbst erfundene Bewältigungsstrategie gelingt es Alex in einem Kraftakt, sich ohne die Hilfe ihrer Mutter und anderer Erwachsener allmählich in die Gesellschaft einzufügen. Das ist das Geheimnis ihres Erfolgs. Der Klappentext beschreibt den ganzen Roman sehr treffend in einem Satz: "Einfühlsam und leidenschaftlich erzählt Margit Mössmer diese Geschichte über Anderssein, kindliche Emanzipation und Mutterliebe – durch die Augen eines Kindes." Zu Beginn des Romans war ich ein bisschen irritiert von der etwas zu konsequent durchgezogenen Erzählperspektive aus Sicht des Kindes, denn Mössmer beginnt tatsächlich bei der Geburt und da gibt es normalerweise weder Erinnerung noch Erkenntnis. Meine frühesten bildhaften Erinnerungen hatte ich mit einem Jahr, deshalb fand ich diesen Teil auch als etwas ambivalent und irritierend – so ähnlich wie eine Text-Bildschere also nicht dramatisch, aber dennoch spürbar. Fazit: Lesenswert!

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