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awogfli

Posted on 15.6.2023

Schon wieder habe ich zu einem sehr kontroversen Roman gegriffen, aber scheinbar ist heuer ein ganz schön großer Teil aller österreichischen Neuveröffentlichungen mit einer Triggerwarnung zu versehen. Nichtsdestotrotz fand ich den Roman gut geschrieben und interessant aufgebaut. Diesmal geht es um das heikle Thema Pädophilie vor allem aus therapeutischer Täterarbeit beleuchtet, und vom Rachegedanken einer betroffenen Mutter getragen, also kein Inhalt, der locker flockig daherkommt. Ich habe mich gleich auf den ersten Seiten gewundert, denn Autorin Augustin schreibt schon zu Beginn, dass sie ihren Humor verloren hat und nimmt das sehr ernst. Kannte ich bisher ihre augenzwinkernden bitterbösen schwarzhumorigen Geschichten, wie Der Zwerg reinigt den Kittel oder Alles Amok, die ich zwar fies, aber brüllend komisch gefunden habe, so geht es nun tatsächlich um ein todernstes Thema. Ein dreizehnjähriges Mädchen wird vermisst, nicht kurzfristig, sondern mehr als Jahr, die Polizei hat mittlerweile aufgegeben, die alleinerziehende berufstätige Mutter ist im Fegefeuer, völlig verzweifelt, sie ermittelt selbst und ist überrascht, was sie über ihre Tochter rausfindet. Irgendeinen Ansatz fördert sie letztendlich zu Tage. Der Teenager war in einem Industriegebiet mit den Jungs Fußballspielen und ein älterer erwachsener Mann, wahrscheinlich ein Pädophiler hat sie beobachtet, angesprochen und mitgenommen. Auch wenn Augustin nicht mehr humoristisch schreibt, sind die Figuren noch genauso abgedreht wie in ihren bisherigen Romanen. Die Mutter der entführten Tochter lässt sich im Anschluss als Geliebte auf eine zehnjährige Beziehung mit dem einzigen Psychiater der Region ein, der Pädophile betreut und bespricht mit ihm seine Arbeit, um irgendwann den Täter zu identifizieren. Die Gruppe der betreuten Pädophilen in der Therapie ist richtig schrecklich bis verstörend, sie werden aus psychologischer Sicht sehr genau mit ihren Problemen, Ängsten, Neigungen, Vermeidungsstrategien und Rückfällen geschildert. Das ist extrem sachlich, intensiv, furchtbar und gut, wie die Mutter, sie nennt sich Karl, im Rachemodus ihrem verheirateten Freund Dr. Frank (was für ein Name, da gabs doch mal eine Fernsehserie: Dr. Frank dem die Frauen vertrauen) endlich die Gelegenheit gibt, intensiv über seine Arbeit zu sprechen, was er mit seiner Ehefrau nicht machen kann. Dabei fällt Frank gar nicht auf, dass er nicht nur im Plaudern seine Schweigepflicht verletzt, sondern dass ihn seine Geliebte regelrecht aushorcht. Zwischendurch wäre die Liaison mit Karl, von der die Ehefrau auch weiß, fast zerbrochen, weil des Doktors Ehefrau Yvette plötzlich schwanger wird und Frank deshalb fokussiert in den Hafen der Ehe zurückkehren möchte. Doch die Schwangerschaft war nur eine Scheinschwangerschaft und so wird das bisher von allen akzeptierte Dreiecksverhältnis – montags bis samstags Ehe, am Sonntag Ausflug zur Geliebten – fortgeführt. Nach zehn Jahren gibt es endlich einen Durchbruch und Karl hat tatsächlich eindeutig den Missbraucher ihrer Tochter mitsamt seinen pädophilen Neigungen anhand der Erzählungen von Dr. Frank ziemlich klar identifiziert. Karl hat mittlerweile unter ihrem richtigen Namen auch einen Job in der bevorzugten Apotheke des Therapeuten angenommen, in der die Gruppe der „Gentlemen“, wie sie Frank oft liebevoll und sehr verharmlosend beschreibt, ihre Medikamente abholen. So wanzt sie sich an den potenziellen Kinderschänder ihrer Tochter namens Viktor heran. Das funktioniert natürlich auch deshalb so gut, weil die Herren in der Therapie lernen, wie man mit Erwachsenen Frauen Beziehungen eingeht. Alles in allem eine Erfolgsgeschichte für Dr. Frank, Viktor und die gesamte Gruppe, die allesamt keine Ahnung haben, dass die Rachegöttin Nemesis im Anmarsch ist. Im Plot legt Anita Augustin noch ein Schäuferl nach, denn Karl ist bei der Erzwingung eines Geständnisses von Viktor bereit, jegliche moralischen Schranken fallenzulassen. Mit welcher Methode sie das bewerkstelligen will, möchte ich nicht verraten, aber es ist so atemberaubend abgedreht. Im Endeffekt tut sie es aber dann trotzdem nicht. „Was macht man mit einem sehr großen, sehr schweren Stein, der Vergangenheit heißt und sich nicht wälzen und sich nicht bewegen lässt? Soll man dagegentreten? Soll man versuchen ihn zu zerschlagen? Was macht man?“ „Man lässt ihn einfach liegen und geht davon.“ Das Thema ist heftig und wird sowohl differenziert als auch nicht verharmlosend in den Plot eingebaut, der wirklich sehr rasant konzipiert ist und mit einigen Überraschungen aufwartet. Die Reaktionen von Betroffenen und die Empörung der Gesellschaft im Gegensatz zum sachlich sezierenden Blick des Arztes werden von der Autorin auch immer wieder aufgenommen. „Und wenn dir irgendjemand erzählen würde, wenn Dir irgendein rechtschaffener Therapeut erzählen würde, dass du falschliegst, dass du undifferenziert vorgehst, weil es nämlich feine Unterschiede gibt, die es zu berücksichtigen gilt, zum Beispiel den Unterschied zwischen Pädophilie und Pädokriminalität, den Unterschied zwischen Fantasie und Tat und nicht zu vergessen den Unterschied zwischen den Tätern, die sich voller Scham ihrer Schuld bewusst sind und jenen Tätern, die sich ihre Verbrechen schamlos schönreden, dann würdest Du ihn anbrüllen, ERZÄHL DAS MEINER TOCHTER!“ Fazit: Sicher eher ein Minderheitenprogramm, aber ich fand den Roman sehr spannend und gut gemacht. Wenn jemand sich dieses furchtbare Thema antun will und hinschauen kann, dann gebe ich sehrwohl eine Leseempfehlung ab.

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