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awogfli

Posted on 9.6.2023

Puh, diese sehr grausame Dystopie ist wirklich nichts für sensible Gemüter, sie strotzt vor psychischer und physischer Gewalt gegen Frauen. So, nachdem ich die Triggerwarnung gleich im ersten Satz abgesetzt habe, kann ich sofort offenbaren, dass mir diese relativ kurze und minimalistische Geschichte außerordentlich gut gefallen hat, sofern man natürlich von gefallen bezüglich so eines Themas überhaupt reden kann, sie hat mich aufgerüttelt und berührt. Im Jahr 2024 tritt im fiktiven Kleinstaat Sandburg völlig überraschend das Weitmannschuldengesetz in Kraft, das vom gleichnamigen gekränkten Mann, einer Minderheit von anderen Männern und von weiblichen Verwandten erlassen wurde. In diesem Gesetz können Männer alles, was sie in den vergangenen sieben Jahren in Frauen „investiert“ haben, zu denen entweder ein Verwandtschaftsverhältnis besteht oder eine vorhergegangene Beziehung existierte, zurückfordern. Zahlbar innerhalb von vierzehn Tagen, ansonsten droht der Schuldnerin Entmündigung. Sehr bald sind auch viele bisher doch wertschätzende Männer begeistert, denn nun können sie sich einerseits schadlos halten und verändern andererseits das Machtgefüge in ihren Beziehungen durch permanente Erpressung und Drohung, das Gesetz in Anspruch zu nehmen. Die Regelung geht sogar so weit, dass Söhne von ihren Müttern irgendwelche Investitionen zurückfordern können. Zuerst wird die Situation in Sandburg thematisiert und wie die Frauen auf die neue Situation reagieren. Das ähnelt frappant an die Juden in Deutschland, Österreich und Tschechien, die auch lange nicht wahrhaben konnten, was die Nazis mit Ihnen vorhatten. Verleugnung, Hoffnung, Verdrängung a la „mein Mann ist ein guter, der macht so etwas nicht“, Bitten um Gnade bei den Partnern und andere Strategien werden von den verzweifelten Frauen angewandt. Die unbegrenzte Macht des Patriachats und der Gruppendruck korrumpiert duch die Gesetzesänderung sehr schnell auch jeden vorher noch anständigen Mann. Was die Feministin Gertraud Klemm über diesen Roman zu sagen hat, kann ich voll unterschreiben: „Vorsicht: Anna Herzig zeigt uns die allerhässlichste Unterseite des Patriachats: Wie eine Pathologin seziert Herzig die schwindende Menschlichkeit unserer Gesellschaft.“ Nach der Beschreibung der Vorgänge im Land fokussiert sich die Geschichte auf seine zwei Protagonistinnen, ein sehr ungleiches Geschwisterpaar: Greta und Elise. In deren beispielhafter, plakativer, persönlicher Familienbiografie der Kindheit geprägt von Gewalt, Missbrauch, Manipulation und Erpressung seitens des Vaters, wird letztendlich auch gesamtgesellschaftlich dann offenbar, wie sehr das Patriachat in Sandburg junge Mädchen schon generationenlang auf diese Welt von Männern für Männer vorbereitet hat. Der missbrauchende Vater wendet die gesamte dunkle Triade auf seine Familie an -sowohl auf die Mutter als auch die Töchter: Narzissmus, Psychopathie und Manipulation. So hat er auch die Geschwister gegeneinander ausgespielt und aufgehetzt und Greta gegen ihre Mutter aufgebracht. Es ist die Aufgabe des Ehemanns, die Gedanken seiner Frau zu lenken, damit sie nicht abtrünnig wird. Das ist keine große Neuigkeit. Wenn man will, dass sich die Frau fügt, muss man nur in liebevollen Momenten herausfinden, wovor sie Angst hat, um es dann gezielt gegen sie zu verwenden. In der Notsituation, als die hochschwangere Greta die Frauenschulden an ihren Mann zurückzahlen soll, wendet sie sich hilfesuchend an ihre größere Schwester Elise. Sie sprechen sich erstmals aus, alle Geister der Vergangenheit kommen aufs Tapet und die beiden ungleichen Frauen versöhnen sich. Anna Herzig malt nach Angabe des Klappentextes eine Zukunft, die ihre Grundlage im Jetzt findet und fragt: Was kostet es, eine Frau zu sein? Hier sehe ich im gesamten Plotaufbau und auch in der Verwendung von Hashtags eindeutig eine indirekte starke Kritik am deutschen Selbstbestimmungsgesetz, in dem wir nun auch in der prekären Situation stecken, dass unsere weiblich geborenen Enkel, Kinder, und Patenkinder, weniger Rechte genießen werden, als Feministinnen der zweiten Welle sie für uns erkämpft haben. Die Autorin legt ihren Fokus dabei auf die Betroffenen, die wie immer sowohl in der Dystopie als auch in der Realität vom Patriachat wenig gehört werden, und das sind weltweit immer jene Menschen, die als weiblich geboren wurden. Sprache und Schreibstil sind oft sehr verkürzt und eindringlich, fast wie ein Maschinengewehr prasseln die kurzen gehalt- und gewaltvollen Sätze auf die Leserschaft ein, das passt aber punktgenau zum Thema. Die Charaktere sind vielschichtig konzipiert und offenbaren erst nach und nach ihre Traumata und Verletzungen. Auf die Imaginationskraft bezüglich der beschriebenen patriarchalischen dystopischen Gesellschaft in ganz naher Zukunft bezogen, ist ein Vergleich mit dem Report der Magd durchaus zulässig. Das ist aus meiner Position heraus ein großes Lob. Fazit: Furchtbarer, verstörender, großartiger Roman über das Patriachat. Absolute Leseempfehlung!

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