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awogfli

Posted on 21.5.2023

Dieser sehr aktuelle Roman, der das Altern thematisiert, ebenso auch die Pandemiesituation in einem Pflegeheim und die damit einhergehende Trennung und Einsamkeit der Familienmitglieder durch Kontaktbeschränkungen über Ländergrenzen hinweg, hat mir recht gut gefallen. Die 99,5 Jahre alte, sture, geistig sehr agile Tante Jele weilt nach einem Oberschenkelhalsbruch im Pflegeheim in Italien. Sie steht im telefonischen Dialog mit ihrer 60-jährigen Nichte Adriana in Deutschland, die seit Jahren Liebeskummer hat, weil sie ihr Mann plötzlich ohne Angabe von Gründen verlassen hat. Tante Jele hat trotz ihrer Traumata der Vergangenheit – sie war im KZ der Ustascha in Kroatien auf der Insel Rab – ihren Kopf immer über Wasser gehalten, sich aus lebensbedrohlichsten Situationen laviert und einen Mann geheiratet, den sie nicht liebte, aber dem sie verpflichtet war. Nach der Pflege ihrer sehr unangenehmen nichtjüdischen Schwiegermutter und als ihr Mann starb, lebte sie in bescheidenem Wohlstand und genoss ihr Leben in mehreren Ländern, liebte ihre Autonomie und Mobilität sogar so lange bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich mit neunundneunzig Jahren den Oberschenkelhals brach. Der Unfall passierte beim Gassigehen mit dem Hund, als dieser so stark an der Leine zog, dass Tante Jele stürzte. In der Gegenwart ist die Handlung sehr gut aufgebaut, nach und nach erfahren wir den Tagesablauf im Pflegeheim, die Einsamkeit unterbrochen durch die gelegentlichen Telefonanrufe von Adriana und die zunehmende Paranoia der Tante, die ständig das Pflegepersonal des Diebstahls bezichtigt. Auch die schon länger andauernde Depression von Adriana wegen der plötzlich gescheiterten Ehe werden im Dialog mit der Tante und ebenso in Selbstreflexionen thematisiert. Jele versucht, ihrer Nichte zu helfen, ohne allzu übergriffig zu werden, indem sie sie immer wieder sanft dazu auffordert, ihr neues Leben zu akzeptieren und wieder zumindest zufrieden, wenn nicht gleich glücklich zu werden. Wer sonst kann glaubwürdiger vermitteln, wie man über die Vergangenheit hinwegkommt und produktiv an Gegenwart und Zukunft arbeitet. Von einer Frau, die 101 Jahre alt wurde, die spanische Grippe, das KZ, ihre norditalienische Schwiegermutter und nun Corona überlebte. Bald wird auch klar, warum die beiden so eine intensive Beziehung verbindet, denn Adriana hat lange Zeit bei Tante Jele in Mantua gelebt. Nach und nach, als der hundertjährige Geburtstag naht, baut Jele zusehends ein bisschen ab, wird sehr schnell müde, hat aber dann wieder ihre lichten und aufmerksamen Momente, nutzt plötzlich auch, unterstützt durch das liebevolle Pflegepersonal, Videokonferenzen. Der einschneidende Geburtstag wird mit einer Skype Konferenz begangen, Tante und Nichte sehen sich aber im Jahr darauf endlich regelmäßig persönlich, denn dieses rüstige alte Schlachtross wird mehr als 101 Jahre alt und ist am Ende der Story immer noch nicht gestorben. Stilistisch hat mir die Geschichte sehr gut gefallen. Dieser abwechselnde Dialog zwischen Tante und Nichte, der teils aus Erzählungen und auch aus Reflexionen der Gegenwart und der Vergangenheit bestand, passte punktgenau. Auch der hin und wieder durchblitzende jüdische Humor ist ganz meine Baustelle, ebenso wie die sehr positive Tonalität des Werkes im Sinne von Problemen, die zwar konstatiert, dann aber ohne viel Gejammer sehr pragmatisch überwunden werden. Moische und Aaron erzählen sich einen Witz über Auschwitz. Sie lachen wie irre. G’tt kommt dazu und sagt: „Wie könnt ihr Witze machen über Auschwitz?“ „Das verstehst du nicht,“ antworten ihm die beiden, „du warst ja nicht dort.“ Sie ordnet sogar den Städten ihres Lebens Gerüche zu. Die Costiera amalfitana riecht nach Mandarinen, die Ostküste der USA nach Kiefern und Jugoslawien nach Schweiß. Opatija riecht nach Apfelstrudel, Wien nach Verrat und Zimt und Salzburg nach billigem Wein. Der Geruch vermischt sich mit ihren guten und schlechten Erlebnissen. Leider fehlt mir persönlich ein fundamentaler Bestandteil der Vergangenheit von Tante Jele, der nie thematisiert wird. Nämlich: Was hat sie im kroatischen Ustascha Konzentrationslager auf der Insel Raab erlebt? Das wird verdrängt und total ausgeblendet. Für mich in zweierlei Hinsicht ein Problem. Erstens würde diese Geschichte viel mehr die Paranoia, bestohlen zu werden und andere charakterliche Auffälligkeiten von Jele erklären und stellt deshalb auch eine fundamentale Lücke in der Figurenentwicklung dar. Jetzt ist natürlich die Verdrängung der Tante legitim, aber die Nichte hätte ja auch recherchieren können, um sich mit der Familie und den Wurzeln auseinanderzusetzen. Zweitens ist ein Konzentrationslager der Ustascha auf der Insel Rab doch keine ausreichend untersuchte historische Begebenheit. Hier unterlässt es der der Roman also, auch noch eine wichtige historische Lücke der Leserschaft zu füllen, was durch den Plot zwangsläufig gegeben wäre. Ewig schade um diese vertane Chance. Fazit: Bedauerlicherweise das Potenzial nicht völlig ausgeschöpft, aber dennoch gut.

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