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awogfli

Posted on 5.4.2023

Ich war schon beim Verlagsdebüt von Fabian Neidhardt beeindruckt, wie sensibel und mit wie vielen Zwischentönen der Autor seine Geschichten aufbaut. Bisher war ich so ein Einfühlungsvermögen meist von Autorinnen gewohnt. In diesem hervorragenden Familienroman legt er aber noch einen Zahn zu, denn seine Figuren und die dargestellten Situationen scheinen bei all der feinfühligen Innensicht nur typisch und schablonenhaft, als große Überraschung entpuppen sich alle Familienmitglieder und die Probleme, die sie verbinden, völlig vielschichtiger, als irgendwie erwartet. Das mag ich besonders an Literatur, wenn mich Protagonisten und Plot hinterrücks 😉 mit unglaublicher Tiefe verblüffen. Trotz meiner Einleitung ist auch das Ausgangssetting nicht ganz gewöhnlich, aber in der heutigen Zeit nicht mehr gar so unüblich. Vater Ben zieht seine Tochter Mia alleine groß. Seine Freundin Orna wollte nie Kinder, hatte schon kurz nach der Geburt gar keinen Kontakt zu ihrer Tochter, aber was wirklich passiert ist, wurde von Ben nie thematisiert und auch die Leserschaft, wie die ganze Familie schwebt im Ungewissen. Die Polizei liefert zu Beginn der Handlung den wütenden zwölfjährigen Teenager Mia zu Hause ab, weil diese dabei erwischt wurde, wie sie in der nächsten Stadt im Inbegriff war, alleine mit ihrem sechsjährigen Kumpel in einen Fernbus nach Hamburg zu steigen, denn sie will ihre Mutter kennenlernen. Bens Vater schlägt fast gleichzeitig bei seinem Sohn auf, weil er von Bens Mutter wegen Untreue rausgeschmissen wurde. Nun ist Ben im Dauerstress und in einer Krise. Die Tochter rebelliert, der neue ungebetene Gast dreht ihm den gut eingespielten Haushalt um und Ben weiß auch gar nicht, worüber er sich mit seinem Vater unterhalten soll, denn es gab schon immer Kommunikationsprobleme zwischen den beiden. Selbstverständlich ist Ben auf der Seite seiner Mutter. Nach und nach kommt in Rückblenden heraus, dass Ben nie ehrlich mit seiner Tochter kommuniziert hat, warum sie ihre Mutter entbehren muss. Orna wollte tatsächlich nie Kinder, das war gemeinsam auch so vereinbart, denn Ben war de facto wegen einer Hodenentzündung unfruchtbar. Da das Leben aber seinen Weg findet, wie es Jeff Goldblum schon so treffend in Jurassic Park ausgedrückt hat, verirrt sich doch ein einziges schwimmfähiges Spermium zu Orna und diese wird überraschenderweise schwanger. Da beide sich auch noch kürzlich getrennt haben, will Orna zuerst das Kind abtreiben, aber Ben zückt mit seiner prinzipiellen Unfruchtbarkeit und der einzigen Chance, in seinem Leben ein echter Vater zu werden, die Opferkarte. So kommen beide überein, dass Orna ihm das Kind schenkt, unter der Voraussetzung, dass es tatsächlich komplett Bens Verantwortung ist. So wird diese Angelegenheit verbindlich abgemacht. Ben zieht während der Schwangerschaft wieder in Ornas Wohnung und unterstützt sie bei allem. Doch Ben hat gelogen, er wollte nie alleine die Verantwortung tragen, sondern Orna durch das Kind an sich binden. Als Mia zur Welt kommt, wird zusätzlich Trisomie 21 festgestellt, und Ben denkt gar nicht daran, sich an die Abmachungen zu halten, er will sich nachhaltig bei seiner Ex-Freundin einnisten, und spielt dann auch noch auf hilflos und überfordert. Das ist der Moment, an dem Orna nach Monaten die Reißleine zieht, die Vereinbarung einfordert und verschwindet. Als Ben bei seinen Eltern aufschlägt, um Unterstützung zu kriegen, erzählt er niemandem, was wirklich passiert ist, sondern lässt seine Eltern im Glauben, dass Orna, diese Egoistin, ihren Sohn mit dem behinderten Kind alleine gelassen hat. All das enthüllt sich erst so allmählich auch die Behinderung von Mia wird ziemlich überraschend aufs Tapet gebracht, deshalb wahrscheinlich auch so unvermittelt, weil der Teenager im Dorf, in der Schule, bei Freunden, in der Familie und mit der gesundheitlichen Förderung derart gut integriert ist, dass diese Erkrankung relativ wenig ins Gewicht fällt. So wenig, dass man sie einfach nicht explizit erwähnen muss, zumindest nicht in einem Buch. Neben den Rückblenden, wird in der Gegenwart die Sprachlosigkeit und das komplizierte Verhältnis zwischen Vater und Sohn sehr tief und sensibel analysiert. Zudem natürlich auch die Problematik der Identitätsfindung von Mia und der Kampf mit Ben, der alles geheim hält und die Bedürfnisse seiner Tochter abblockt. Von der Trennung von Bens Eltern aufgeschreckt, schlägt eines Tages auch Bens Schwester Salome im Haus auf, lädt auch noch die Mutter zu einem gemeinsamen Klärungsgespräch ein und zufällig hat sich gleichzeitig an dem Tag auch Orna spontan entschlossen, dem schriftlichen Kontaktansuchen ihrer Tochter nachzugehen und bei Ben aufzutauchen. Beim Mittagtisch kommen nun nach zwölf Jahren endlich alle an einem Ort zusammen und die Geheimnisse der Familienmitglieder aufs Tapet, das ist dramaturgisch grandios gelöst. Es wird nun alles ausgesprochen und ausgestritten. Lügen und Vertuschungen werden aufgedeckt, Kränkungen thematisiert und Missverständnisse beseitigt – die ganzen Probleme und die Vergangenheit werden offengelegt. Wenn Ihr glaubt, dass ich bis zu dieser Stelle schon zu viel gespoilert habe, werdet Ihr Euch wundern, denn es gibt noch einiges, was hier am Tisch endlich ans Licht der Öffentlichkeit tritt. Ben hat noch viel mehr verheimlicht, die Trennung seiner Eltern ist auch nicht so, wie es scheint, die Vater-Sohn-Beziehung wird auf neue Beine gestellt, Ornas Verhalten wird von allen endlich fair bewertet und auch Bens Schwester Salome offenbart sich noch. Das war sehr spannend und überraschend. Boah, wo gibt es diese sensiblen Männer, die so wundervolle Geschichten erfinden können. Im Nachwort beschreibt der Autor auch, wo er seine tiefgreifenden Informationen recherchiert hat. Betroffenen zuhören, verstehen, solche Gefühle in wundervoller Sprache zu artikulieren und konsistent in den Plot einzubauen, das kann Neidhardt auf jeden Fall perfekt. Die Figurenentwicklung ist ohnehin sensationell, sie macht die Einzigartigkeit des Romans aus. Fazit: Absolut Lesenswert! Eine ungewöhnliche, großartige, vielschichtige Familiengeschichte.

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