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awogfli

Posted on 15.3.2023

Das ist nun schon der dritte Roman mit ähnlichem Setting (Coming-of-Age-Story, Schauplatz Österreich, ländlicher Raum, dysfunktionale Familie und Beziehung zu Großeltern), den ich dieses Jahr, also seit Jänner gelesen habe und ich muss sagen, Offene Gewässer ist meiner Meinung nach bei weitem der beste bisher. Hatte sich Lisa Eckart mit ihrer Omama in der Sprache ein bisschen verschwurbelt und in der Figurenentwicklung Defizite aufscheinen lassen und schraubte sich Helena Adler mit Die Infantin trägt den Scheitel links zwar sprachlich in höchste Sphären, vernachlässigte aber den Plot total, so kombiniert dieser Roman von Romina Pletschko die Stärken beider Geschichten und formt daraus eine grandiose Coming-of-Age-Story. Ich liebe fast alles an diesem Roman, die wundervolle Sprache, den Wortwitz und den Plot: die Geschichte des kleinen entwurzelten Mädchens, deren Eltern offenbar etwas ausgefressen haben und das nun von Stuttgart aufs Land zur Großmutter nach Österreich, respektive nach Liebstatt zieht, wie das sture, aufgeweckte Kind seine alltäglichen Probleme als Fremdkörper im Dorf meistert, wie es mit der Großmutter und in der Schule zurechtkommt, wie das junge Mädchen ihren Mann zu Beginn der Pubertät identifiziert und ihn dann während des Studiums klarmacht, und wie sie ihn letztendlich als erwachsene, ältere Frau wieder verliert. Zusätzlich fand ich ein paar Parallelen zu meinem eigenen Leben köstlich, wie zum Beispiel: vorübergehend Mitglied im Schwimmteam, nach dem sportlichen Engagement Kettenraucherin, mehrere Jahre „Knast“ in der katholischen Klosterschule, den Mann schon sehr früh in der Schule kennengerlernt und erst während des Studiums mit ihm zusammengekommen. Diese Situation In der Klosterschule – kenne ich nur zu gut: "Bis zur Adoleszenz eingesperrt in dieses Geistesgefängnis […]. Ich war es außerdem leid, dass meine ersten modischen Aufwallungen allesamt unverzüglich zensiert wurden, beispielsweise aufgrund von zu viel nackter Schulterhaut. Es war unfassbar. Spaghettiträger wurden als lasterprovozierende Erfindung des Leibhaftigen behandelt, als lauerte die Befleckung an jeder Ecke. […]. Schwester Jakobe, zuständig für Moral und Physik ließ nicht mit sich reden, im Gegenteil, man hätte sich denken können, dass sie Lust empfand bei ihren ebenso ausschweifenden wie hölzernen Ausführungen („Dann führt das eine zum anderen, man weiß das ja“) über die möglichen Schweregrade der Verfehlungen, im schlimmsten Fall gipfelnd in einer Schwangerschaft, andere Umstände, die man unter allen Umständen zu vermeiden hatte." Genau diese Spaghettiträger-Diskussion hatte ich auch, sogar am Faschingsdienstag, als ich mich als Wasserleiche verkleidete. Zudem musste sich die ganze Klasse einer noch bekloppteren Argumentation beugen: Schwester XY (Name habe ich vergessen, beziehungsweise eher verdrängt): „Wenn ihr einen jungen Mann in der Stadt seht, dreht Euch um und schaut in die andere Richtung.“ Meine Freundin Marion: „Was ist, wenn ich mich auf der Linzer Landstraße (Haupteinkaufsstraße) befinde und beim Umdrehen wieder einen jungen Mann sehe.“ Schwester XY: „Schwendtner, das sind Einzelfälle, über die wollen wir jetzt nicht diskutieren.“ 😀 Der Roman ist in zwei Abschnitte geteilt, wobei zwei Drittel die Coming-of-Age-Geschichte abdecken und der Rest dann im Alter einsetzt, als die Protagonistin wieder in ihre Heimatstadt Liebstatt zieht und auf ihr Leben zurückblickt. In der Figurenentwicklung tut sich bei der Ich-Erzählerin ab der Adoleszenz nicht ganz so viel, aber dafür viel mehr beim Ehemann, der sich offensichtlich zu sehr weiterentwickelt hat und sie dann nach Jahren wegen ihrer mangelnder Änderungsfähigkeit verlässt. Auch hier wird sehr ehrlich und mit viel Selbstironie die Situation analysiert. Der Roman ist überhaupt ein Paradebeispiel für Situationskomik und kluges, witziges, sarkastisches Wordbuilding. Ich weiß schon, Humor ist immer subjektiv, aber in dem Fall hat Romina Pletschko meine präferierte Form von Sprachwitz, Satire und Komik punktgenau getroffen. "Einmal schubste er mich tatsächlich im Vorbeigehen vom Steg in den See, einfach so, ohne Vorwarnung. Ich war entzückt und blieb es auch trotz plötzlich schmerzendem linkem Fuß, war doch diese ungeschickte Übergriffigkeit ein untrügliches Zeichen für zwischengeschlechtliches Interesse. Die Codes am Land wirkten zwar etwas grobschlächtig, waren aber nicht schwer zu entschlüsseln." "Diese dauerpräsente Mittellosigkeit, nur teilweise kaschierbar durch gewitzte Leih und Tauschgeschäfte, ließ mir daher kaum andere Optionen, als sie jahrelang durch beachtliche autodidaktische Ambitionen im Bereich des Ladendiebstahls zu kompensieren, anders war mein finanziell immer komplexer werdender Lebensstil als Durchschnittsjugendliche bedauerlicherweise nicht zu finanzieren." Wenn ich noch einen kleinen Motzer rauslassen müsste, Ihr wisst, dass ich gerne noch ein Härchen im Süppchen finde, dann ist mir das Finale der Geschichte noch immer ein bisschen zu wenig gewalttätig und zu abrupt beendet, als sich die Protagonistin gegen ein Bauprojekt in der Nachbarschaft ihres Refugiums am See in Liebstatt wehrt. Das Finale ist zwar sehr gut und richtig angemessen, aber ich habe bei diesem Schreibstil und der Situationskomik der Autorin immer Tom Sharpe im Hinterkopf (das ist eine große Ehre) und dort gibt es einfach viel mehr blutige Kollateralschäden. Fazit: Absolute Leseempfehlung. Schon wieder ein Buchstoffhöhepunkt. Sprachlich grandios, sehr guter Plot und auch noch witzig.

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