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awogfli

Posted on 19.2.2023

Die Göttin des Zynismus-Universums Virginie Despentes ist wieder da, wiederauferstanden mit einem brandneuen Roman der erneut mit aktuellen gesellschaftlichen Themen glänzt und sich vor allem mit #metoo, Feminismus, toxische Männlichkeit, Social Media, Alkohol- und Drogensucht, Entzug und dem Umgang mit der Coronapandemie beschäftigt. Als Fangirl der Trilogie um Vernon Subutex war ich schon sehr gespannt und ich wurde nicht enttäuscht, im Gegenteil, ich bin hingerissen. Der Stil des Werkes ist auch etwas ungewöhnlich, denn drei Protagonisten verhandeln in Form eines modernen Briefromans die wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Da ist der Autor Oscar, der sich mit einem riesigen Shitstorm in den „sozialen“ Medien konfrontiert sieht, als die Online Feministin Zoe Katana, vormals eine kleine Pressereferentin in Oscars Verlag, ihn bezichtigt, sie in jungen Jahren gestalkt, belästigt und dann auch noch für ihren Rauswurf aus dem Verlag gesorgt zu haben. Oscar, damals auf dem Gipfel seiner beruflichen Popularität, wehrt seine Verantwortung kategorisch ab, wohlwissend, dass er sich an vieles aus dieser Zeit infolge seines massiven Alkohol- und Drogenmissbrauchs gar nicht mehr erinnern kann. Weinerlich beschwert sich Oscar auf Instagramm und bekommt dadurch Kontakt zur alternden, sehr selbstbewussten Schauspielerin Rebecca, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und mit dem Autor Tacheles redet. Sie kennt die Situation, denn sie war während ihrer gesamten Karriere vor allem heroinsüchtig und ist noch immer drogenabhängig. Was in Briefform (ich gehe von E-Mail aus) zuerst mit einer gegenseitigen Beschimpfung beginnt, wird nach und nach zu einer Diskussion und Verhandlung, einem ehrlichen Gespräch, in dem sich die beiden gegenseitig therapieren, ihre gesamten alltäglichen und verschütteten Probleme diskutieren und Lösungen suchen, und letztendlich zu einer tiefen Freundschaft. Da sich in Paris die Intellektuellen alle untereinander kennen, die ganze Stadt quasi ein Dorf ist, mischt auch das Opfer Zoe Katana mit, denn sie ist mit Rebecca bekannt und mit Oscars lesbischer feministischer Schwester befreundet. Zudem veröffentlicht Zoe in ihrem persönlichen Blog auch immer wieder ihre Gedanken zur Situation. So ergibt sich ein spannendes Dreieck von ProtagonisInnen. Mit was für einer unglaublichen Eleganz Despentes hier sehr viele aktuelle Themen abseits von Feminismus und #metoo in die Streitdialoge in Briefform einwebt, ist großes Kino. En passant werden beispielsweise Kindererziehung, wie das Konzept narzisstischer Vereinnahmung versus völlige Gleichgültigkeit im Sinne von laissez faire, Drogen beziehungsweise Drogenentzug, Machtmissbrauch und viele andere gesellschaftlichen Probleme komplett leichtfüßig, teilweise kontrovers thematisiert und in die Unterhaltung konsistent eingewoben. Ich verstehe, es ist ambitionierter zu sagen – Kriege richten zu viel Zerstörung an, lasst uns die Rüstungsindustrie abschaffen – als zu sagen, ich muss meinem Mann beibringen, den Abwasch zu machen. Aber der Krieg steht im Mittelpunkt von allem. Ich will gern den Männern die Schuld daran geben – dass sie keine andere Lösung gefunden haben, als Blut zu gebären. Theorien sind witzlos, gern serviere ich dir eine – sie sind so frustriert, weil sie keine Kinder gebären können, dass sie sich einen Ersatz gezimmert haben, wo Scheiße und Blut spritzen wie bei einer Entbindung. Auch wenn in Despentes Geschichten zu Beginn oft keine Gnade und kein Funken Hoffnung, sondern nur Zynismus existiert, wäre es nicht meine französische Lieblingsautorin, wenn sich der Plot nicht völlig anders entwickeln würde. Die Autorin ist wirklich die Meisterin der Figurenentwicklung. Als ein Großteil der französischen Bevölkerung wegen Corona und den Lockdowns ziemlich durch den Wind ist, beginnen ausgerechnet die beiden kaputten Existenzen Oscar und Rebecca mit gegenseitiger Unterstützung einen Entzug mit Gruppentherapien in Form von Zoom-Meetings. Hier präsentiert uns Despentes tiefe Einblicke in Sucht und Entzug, Aufarbeitung von Lebensproblemen und Umgang mit Krisen und Rückfallgefahren. Sie beschreibt übrigens unterschiedliche Süchte (Heroin, Alkohol, Koks und Crack) und ihre Spezifika ziemlich genau. Dieses Wissen basiert entweder auf sehr guter, intensiver Recherche oder auf eigenen Erfahrungen. Die Leserschaft bekommt zudem einen sehr guten Einblick in den Umgang der französischen, respektive Pariser Bevölkerung mit der Coronapandemie. Am Ende wird einiges aufgearbeitet: von Oscar mit seiner Schwester seiner Tochter und den Eltern, von Oscar mit Zoe, von Rebecca. Ein paar andere Probleme werden gesellschaftlich auch noch verhandelt und Lösungen aufgezeigt, insbesondere ein gesunder Umgang mit Social-Media bei Shitstorms, unterschiedliche Positionen im Feminismus und vieles andere mehr. Standhaft wird jeden einzelnen Tag gegen Süchte gekämpft und von allen Protagonisten werden neue Perspektiven entwickelt. Aber mehr möchte ich jetzt nicht mehr verraten. Fazit: Absolute Leseempfehlung! Grandios! Mein erster Buchstoffhöhepunkt dieses Jahr.

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