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Zwei Schwestern im Nordirland-Konflikt Für ein Mädchen aus einer Sozialwohnung in Andersontown, neben der berühmten Falls Road eines der bekanntesten katholischen Ghettos in Belfast während des blutigen Bürgerkriegs, hat Tessa es weit geschafft: Sie arbeitet als Produzentin politischer Sendungen für die BBC in der nordirischen Hauptstadt. Nicht alle in ihrer alten Nachbarschaft finden das gut. Doch während Tessa die jahrhundertelange Diskriminierung der katholisch-irischen Bevölkerung durch angelsächsische Protestanten durchaus wahrnimmt, liegt ihr politischer Aktivismus fern. Als alleinerziehende Mutter konzentriert sie sich ganz auf ihren kleinen Sohn Finn, der mit seinen acht Monaten noch ganz auf sie angewiesen ist. Und auch mit ihrem Leben in einem überwiegend protestantischen Dorf außerhalb von Belfast hat sie sich von den "troubles" entfernt. Bis sie eines Tages in einer Nachrichtensendung ein Foto ihrer Schwester Marian mit einem Fahndungsaufruf sieht. Die Rettungssanitäterin war an einem IRA-Überfall auf eine Tankstelle beteiligt. Das ist der Moment, der in dem Politthriller "Northern Spy" von Flynn BerryTessas Welt aus den Angeln hebt. Sie ist überzeugt: Marian wurde zu der Tat gezwungen, als harmlose Zivilistin von einer IRA-Einheit zwecks Unauffällugkeit entführt. Die Polizei ist anderer Meinung: Marian sei schon seit Jahren in der IRA aktiv, nun in den Untergrund abgetaucht. Tessa weiß nicht mehr: Hat sie sich so in ihrer Schwester täuschen können? Es wird noch komplizierter: Fast jeder scheint ein doppeltes Spiel zu spielen, und für Tessa wird es immer schwerer, zu entscheiden, wem sie trauen kann. Ist Marian eine Terroristin, die gleichzeitig eine Informantin des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 ist und somit die Aktionen ihrer eigenen Organisation sabotiert? Oder führt sie im Auftrag der IRA den MI5 in die Irre? Tessa wird selbst zur heimlichen Informantin des MI5, doch dann will die IRA sie anwerben und jede Entscheidung, die Tessa trifft, kann tödlich sein. Gut geschildert ist in diesem spannenden Politthriller die emotionale Achterbahnfahrt Tessas, die sich zunehmend unsicher ist, ob sie ihrer Schwester noch trauen kann, die in einen tiefen Gewissenskonflikt gerät zwischen dem Wunsch, weitere blutige Gewalt zu verhindern und der Angst, welche Konsequenzen ihre Handlungen für ihren kleinen Sohn haben können. Die Situation spitzt sich immer weiter zu und auch beim Lesen bleibt lange Zeit unsicher, wer letztendlich welche Loyalitäten hat. Flynn Berry ist trotz des irischen Namens Amerikanerin, vielleicht geraten deshalb die Szenen aus Belfast ein wenig blass, zudem ist sie zu jung, um die Zeit vor dem Karfreitagsabkommen selbst erlebt zu haben. Manches aus der äußeren Atmosphäre des jahrzehntelangen Konflikts und der aufgeheizten Stimmung zwischen den durch eine Mauer getrennten Stadtviertel Sandy Row und Falls Street etwa bleibt deshalb vage. Auch die Frage, wie der Konflikt in die erweiterte Familie hineingetragen wird - immerhin arbeitet Tessa für einen britischen Sender - bleibt weitgehend außen vor. Der Aufbau der psychologischen Spannung, die aus der Perspektive von Tessa geschilderten Ängste und Unsicherheiten sind gut geschildert. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Tessa gewissermaßen die feste Grundlage ihres Lebens entzogen wurde und sie nun quasi auf Treibsand unterwegs ist. Die Geschichte lebt von dem trotz aller Zweifel engen Beziehung der beiden Schwestern und der Sorge Tessas um den kleinen Finn, die sie zu verzweifelten Aktionen treibt. "Northern Spy" zeigt auch: Ein Bürgerkrieg hat wenige Gewinner, denn alle Seiten verlieren.