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awogfli

Posted on 10.1.2023

Ich mag die eindrückliche Fabulierkunst von Daniela Krien, wie sie mit Wörtern plastische Bilder malt, aber ihr neu aufgelegter Debütroman lässt mich ein bisschen ratlos zurück. Nicht dass der Plot schlecht aufgebaut, mühsam oder irgendwie langweilig wäre, das ist überhaupt nicht der Fall, er ist sogar handwerklich sehr gut gemacht. Aber so, wie sich die Geschichte entwickelt, das ist irgendwie nicht logisch, beziehungsweise tendiert die Wahrscheinlichkeit gegen null. Das wäre jetzt kein Problem, wenn Ihr Name Heinrich Steinfest hieße und die Unwahrscheinlichkeit ihrer Geschichten so wie bei diesem Autor Programm wären. Aber ich habe Daniela Krien bisher eher als eine Schriftstellerin kennengelernt, die uns Geschichten mitten aus dem realen Leben erzählen will. Deshalb möchte ich mein Unbehagen gar nicht als Kritik, sondern eher als Irritation meinerseits bezeichnen, denn wer bin ich, dass ich einer anerkannten Autorin in ihre Fiktion, und wie diese sich entwickelt, reinreden will. Vielleicht bin ich auch deshalb so verwirrt, weil ich wieder zu Beginn des Romans, wie so oft bei Krien, sehr viel persönliche Identifikation und Verbindung mit ihr und den Figuren gespürt habe. Die fast siebzehnjährige Maria zieht von ihrer depressiven Mutter zu ihrem Freund Johannes in ein Dorf in der Nähe, auf einen Bauernhof. Das gesamte Setting der Geschichte spielt in der DDR kurz vor der Wiedervereinigung. Das junge Mädchen wird zuerst zwar ein bisschen verhalten, wie es der Charakter fast aller Protagonisten ist, aber sehr wohlwollend in der Großfamilie ihres Freundes aufgenommen. Maria merkt erstmals, wie es ist, in einer nicht dysfunktionalen, sondern einer gut laufenden, von Respekt getragenen Familie zu leben. Zugegeben, der neue Alltag ist auch nicht von übertriebenen Liebensbezeugungen, viel Zärtlichkeit oder sonst was geprägt, sondern von schwerer Arbeit am Hof, aber es gibt Anerkennung, Rücksichtnahme, Kooperation und Wertschätzung. Dieses neue Zuhause ist diametral entgegengesetzt zu Marias Kindheit: Der Vater, meist auf Montage in Russland, abwesend und das Kind vernachlässigend hat sich nun endgültig nicht nur dort eine Geliebte genommen, sondern will irgendwo weit wegbleiben und eine Frau heiraten, die nur zwei Jahre älter als seine Tochter ist. Das war für Marias Mutter ein harter Schlag, vor allem, weil sie ihr Haus nicht halten konnte und deshalb zu den Schwiegereltern ziehen musste. Nach dem Jobverlust war das Maß ihrer Resilienz erschöpft und sie fiel in tiefe Lethargie und Depressionen. Insofern wird Marias Umzug zu ihrem Freund fast schon zur Flucht aus dieser unerträglichen Situation. Schnell findet das Mädchen ihren Platz in der neuen Familie, lernt sich nützlich zu machen und gliedert sich sehr friktionsfrei in den Betrieb am Hof ein, ohne ihre Hobbys wie Lesen und ihre Autonomie völlig aufzugeben. Ein kleiner Wehmutstropfen ist aber infolge des Schwänzens ihr verpasster Schulabschluss und das momentane Fehlen von Perspektiven. Maria lässt sich treiben, was aber nicht ganz so schlimm ist, denn es ist Sommerbeginn und im Herbst können noch immer die lebensverändernden Entscheidungen getroffen werden. Wundervoll und plastisch beschreibt Krien die Landschaft, das Dorf, das Gebäude und das Leben auf dem Bauernhof. Dieser erinnert übrigens frappant an den Hof meiner Großmutter: Er ist zwar in Ostdeutschland und nicht im Waldviertel und Omas Hof war nur einstöckig, aber sonst habe ich grad wieder alle Bilder meiner Kindheit im Kopf, weil es so ähnlich ist. Zudem gibt es eine sehr stimmige und großartige Einbettung der Figuren in historische Ereignisse, der erste Besuch des jungen Paares im Westen, eine Diskussion in der Familie, wer bei der Stasi war und wer sich dem Regime angebiedert hat, der erste Besuch des aus der DDR geflüchteten Onkels aus Bayern inklusive Familie, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Chancen und Risken, die durch die Wiedervereinigung entstehen und vieles mehr. Das hat mir alles sehr gut gefallen. Dann wird der Plot aber allmählich ein bisschen absurd und für mich schon unrealistisch konzipiert, möglicherweise sogar tatsächlich nach dem Lolita Vorbild. Maria ist also voll in die Familie und in die Arbeit auf dem Hof integriert, hat zusätzlich eine Teilzeit-Sommer-Servicestelle im örtlichen Wirtshaus angenommen und dazwischen schleicht sie zum fünfundvierzigjährigen Nachbarn und Geliebten Henner, um alles andere als Blümchensex mit diesem zu haben. Der mangelnde Realismus für mich resultiert nicht darin, dass so etwas passiert, das Mädchen hat möglicherweise einen veritablen Vaterkomplex, sondern ich muss mich schon fragen, warum so etwas ein halbes Jahr völlig unbemerkt bleibt. Sieht das keiner? Klar ist Maria eine sehr talentierte Lügnerin und schiebt immer einen Besuch bei ihrer Mutter vor, aber über die Felder zum Nachbarn laufend, ist in so einem Dorf doch ein jeder sichtbar, hat die Autorin zu Beginn doch die Weite hinter der Scheune sehr anschaulich beschrieben. Und die blauen Flecken und Striemen bemerkt auch keiner? Die beiden treiben es einmal sogar so wild, dass Maria ein paar Tage bettlägerig wird. Seid mir nicht böse, aber der Flurfunk in einem Dorf kann nicht so schlecht funktionieren, das weiß ich aus Erfahrung, vor allem dann nicht, wenn das Mädchen auch noch im dörflichen Interesse steht, weil sie die Kellnerin im Gasthaus ist. Versteht mich nicht falsch, was in den Häusern hinter den Vorhängen passiert, ist auch in kleinen Ortschaften selten bekannt, da haben sich schon unbemerkt die schlimmsten Familiendramen abgespielt, aber die Affäre mit den Nachbarn bleibt so gut wie nie unentdeckt, vor allem nicht, wenn die beiden keine Erklärung für die Treffen haben. Schon öfter wurden mir am Land am nächsten Tag Liebesgeschichten fälschlich angedichtet oder auf den Kopf zugesagt, weil jemand mich beim Verlassen eines Hauses oder mein Auto gesehen hat. Die Dorfstasi funktionierte nicht nur in der DDR, sondern feiert auch heute noch fröhliche Urständ. Sogar in einer Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern passiert das auch, wie das geflügelte Sprichwort aus meiner ehemaligen Heimatstadt Steyr beweist: „Wenn einer auf der Zwischenbrücke (Stadtzentrum) einen Schas lässt, weiß es am nächsten Tag die ganze Ennsleite (Stadtteil am Berg am Stadtrand).“ So geht die Affäre zwischen Henner und Maria ein halbes Jahr lang unbemerkt über die Bühne, gleichzeitig zur Beziehung mit Johannes und mit der gesamten Familie. Nur der Knecht hat etwas gesehen, hält sich aber raus. Noch unwahrscheinlicher wird die Geschichte, weil das heimliche Liebespaar mit Fortdauer ihrer Affäre immer unvorsichtiger wird. Warum Maria nicht einfach die Wahrheit sagt, erklärt sich schon, Johannes ist ihr zwar mittlerweile egal, aber sie hat Angst, seine Familie und diese Geborgenheit zu verlieren. Tja, das Finale des Romans ist für mich auch sehr unbefriedigend. Als sich Maria nach einem halben Jahr nach langem Ringen endlich dazu entschließen will, reinen Tisch zu machen, weil sie von ihrem väterlichen Geliebten und er von ihr nicht loskommen kann, zaudert sie wieder und dann passiert ein Unglück. Zum Schluss ist alles wieder so wie am Anfang, nix ist passiert, sie ist noch immer mit Johannes zusammen und keiner hat nie irgendwann etwas gemerkt. So groß kann die Leidenschaft auch nicht gewesen sein, wenn Maria sich dann wieder so schnell und ohne, dass es jemand merkt, aus dieser Affäre und dem Kummer befreien kann. Die intensive, süchtig machende Beziehung wird weggeschnippt wie eine Staubflocke, ein kurzes Schütteln und weiter mit der Tagesordnung. Eine weitere psychologische Ungereimtheit in der Figurenentwicklung, denn Maria war zwischendurch mal eine Woche vor Liebeskummer tatsächlich physisch krank, als sie dachte, Henner hätte sie verlassen. Fazit: Ein sprachlich großartiger Roman, vom Plot her auch spannend mit grandiosen Hintergrundschilderungen und Einbettung in den Gesellschaftsumbruch während der Wende, aber die Story im Vordergrund lässt mich ein bisschen ambivalent zurück, weil sie für mich in einigen Aspekten einfach nicht logisch und stimmig ist. Wieder einmal 3,5 Sterne genau, die ich erneut wohlwollend aufrunde.

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