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Nach Tell von Joachim B. Schmidt bin ich innerhalb kürzester Zeit erneut in die Schweizer Bergwelt des Mittelalters zur Zeit der Habsburgerherrschaft irgendwo in das Grenzgebiet zwischen dem Kanton Glarus und Schwyz eingetaucht. Ehrlich gesagt, hat mich zuerst die hohe Seitenanzahl des Romans Halbbart von mehr als siebenhundert ein bisschen abgeschreckt, denn ich hatte 2022 schon mit einem anderen, ebenso riesenumfänglichen Epos meine veritablen Probleme. Diese zwar episch breite Story hat jedoch nicht ein einziges Wort zu viel, sie ist in jeder Phase rasant, atemberaubend spannend und sehr ansprechend. Kein Wunder, dass das Werk 2020 für den deutschen Buchpreis nominiert wurde, meiner Meinung nach wohlverdient. Die Geschichte handelt von einer Familie, ihren Freunden und einem Dorf, eingebunden in historische Geschehnisse vor der Gründung der Schweiz irgendwo in den Schwyzer Alpen, vom Schicksal des Protagonisten Sebi (Eusebius), seiner Brüder Geni und Poli, des Onkels Alisi, des guten Freundes Halbbart, des Lehrmeisters und Freundes Stoffel, der Geschichtenerzählerin Teufels-Anelli und vielen anderen. Der Autor führt also nach und nach sehr viel Personal ein, das aber so detailliert und tief beschrieben ist, dass keine Sekunde Verwirrung zwischen den Figuren aufkommt. Die drei Brüder sind höchst unterschiedlich Geni, der Älteste, übernimmt nach dem Tod der Mutter die Rolle des Familienvorstands. Seine herausragenden Eigenschaften sind Intelligenz, Vernunft, vorsichtige Abwägungen, Fleiß und Diplomatie. Poli, der mittlere Bruder ist ein gewalttätiger, recht einfältiger Heißsporn, der schnell ohne nachzudenken zuschlägt und seinen jüngeren Bruder Sebi und viele andere mit Lust drangsaliert. Schon früh eifert er seinem in fernen Ländern weilenden Onkel Alisi nach, der das Handwerk des Berufssoldaten ausübt und marodierend, klauend, kämpfend und tötend durch ferne Länder zieht, immer demjenigen verpflichtet, der ihm für dieses schmutzige Handwerk das meiste Geld offeriert. Protagonist Sebi, das Nesthäkchen, ist noch sehr jung und weiß über weite Strecken der Geschichte nichts mit sich anzufangen. Für die Feldarbeit ist er auf Grund seiner schmächtigen Konstitution nicht geeignet, kämpfen will er auch nicht, sein Talent liegt eher im ausgezeichneten Gedächtnis und in der wortwörtlichen Widergabe von allem, was er gehört hat. Eine weitere wichtige Figur ist der Namensgeber des Romans, Halbbart, der deshalb so heißt, weil eine Körperhälfte massive Brandwunden aufweist. Zu Beginn der Geschichte strandet er als Flüchtling im weit abgelegenen Schweizer Bergdorf und freundet sich mit Sebi und später mit Geni an. Nach und nach wird schrittweise aufgedeckt, welches Schicksal der Halbbart durchleiden musste. Er kommt ursprünglich aus Korneuburg in Österreich, hatte irgendwie eine medizinische Grundausbildung und die Habsburger haben ihm etwas ganz Schlimmes angetan, das nicht nur die Brandwunden umfasst. Schon in den ersten Szenen rettet der Halbbart Genis Leben, indem er sein septisches Bein amputiert. Nachdem ein Dorfbewohner durch die Heilkünste des Halbbarts dem Tode gerade noch von der Schippe gesprungen ist, wird dieser auch für andere Fälle konsultiert und als Fremder dennoch sehr schnell in die Dorfgemeinschaft integriert. Was dann folgt, ist irgendwie sogar eine Coming-of-age-Story im mittelalterlichen und bäuerlichen Setting mit Entbehrungen, Aberglauben, Tod, Krankheit, Gott und Teufel, denn Sebi muss seine Bestimmung und seinen Platz in der Welt erst finden. Zuerst wird er ob seiner Talente ins Kloster Einsiedeln gesteckt, von dem er flüchtet, weil die Vorgesetzten unglaubliche Sünden begehen und Sebi befehlen, als Komplize bei Schandtaten zu fungieren. Das Kloster ist also wegen Gotteslästerlichkeit nicht geeignet. Anschließend wird er zum Schmied Stoffel als Geselle in den Hauptort Ägeri geschickt, der ihn zwar sehr gerne mag, aber schnell feststellt, dass Sebi für diesen Beruf überhaupt nicht geeignet ist. Einen Vorteil hat diese Lehrstelle jedoch, Stoffel fertigt für den Geni eine Beinprothese an. Der Halbbart wird zwischendurch beschuldigt, vom Teufel besessen zu sein, weil ihn einige missgünstige Dorfbewohner verleumdet haben, aber er kann sich reinwaschen. Die Story geht indes rasant weiter, man kommt kaum zum Atemholen bei den spannenden Ereignissen. Mittlerweile hat Geni eine politische Funktion als Diplomat und Berater beim Landammann in Ägeri erreicht, Onkel Alisi ist aus dem Krieg ins Bergdorf zurückgekehrt und fordert das Haus und die Stellung als Familienoberhaupt, was zu Konflikten zwischen Neffen und Onkel führt. Der ehemalige Soldat Alisi kann die Gewalt und sein Handwerk nicht lassen, er wiegelt das ganze Dorf, insbesondere die Jugend und vor allem Poli auf und schart auch sonst marodierende, besoffene Soldaten um sich, um sie zu bewirten. Sebi ist irgendwann am Ende seiner Suche zu sich selbst angekommen, hat seine Bestimmung gefunden und geht beim Teufels-Anelli als Geschichtenerzähler in die Lehre. Alle Geschehnisse spielen sich vor dem historischen Hintergrund ab, in dem die Bergbevölkerung die Klerikalen und die Klöster, die sie ausbeuten, belehren und gängeln, abgrundtief hassen und mit ihnen natürlich auch die Habsburger, die für die Klöster und die Kirchen als Schutzmacht auftreten. Die aufgestaute Wut entlädt sich, indem eine Rotte aus mehreren Dörfern das Kloster Einsiedeln überfällt. Als vernünftiger Gegenpart in diesem politischen Spiel fungieren der Landammann des Kanton Schwyz, seine Soldaten und der Berater Geni, die mit Diplomatie und Verhandlungen einen Bürgerkrieg und einen Krieg mit den Habsburgern verhindern wollen. Im furiosen Finale und der ultimativen Schlacht müssen sich alle entscheiden, auf welcher Seite sie stehen, jener der Vernunft und Verhandlung oder jener der Gewalt, des Kampfes und des Bürgerkrieges, mit allen Konsequenzen, die vom übermächtigen Feind Habsburg langfristig drohen. Die Bruchlinien gehen mitten durch Dörfer, Familien und Freundschaften. Lediglich Protagonist Sebi laviert wieder herum und ist wie so oft zur falschen Zeit zufällig und ungewollt am Ort des Geschehens. Das ist aber nicht problematisch, denn einer muss ja ein bisschen neutral und am Leben bleiben, um die Geschichte den nachfolgenden Generationen zu erzählen. 😉 Die vielen Figuren sind derart tief, konsistent und liebevoll entwickelt und dann auch noch so interessant in den historischen Kontext eingebettet, dass es eine reine Freude ist. Beim wohlkonzipierten Plot kommt keine Sekunde ein Fünkchen Langeweile auf. Das Stimmungsbild der mittelalterlichen Gesellschaft in den Schweizer Bergen hat mich auch gepackt und nicht mehr losgelassen. Fazit: Hammer! Atemberaubend und spannend, ein Meisterwerk, trotz seiner epischen Länge.