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awogfli

Posted on 13.12.2022

Tell ist die Neuerzählung der alten Schweizer Geschichte von Willhelm Tell und Hermann Gessler von Joachim B. Schmidt. Der Autor hat quasi einen Heimatkrimi aus dem historischen Stoff gemacht. Die Chance, bei einer Neuinterpretation eines Klassikers zu scheitern, ist groß. Warum das hier gelingt, ist auch einfach erklärt. Weil Schmidt neue Aspekte der historischen Geschichte hinzufügt und diese dann auch noch sehr spannend arrangiert. Tell wird psychologisch viel tiefer skizziert als in den Sagen und in Schillers Werk. Er wird aus sehr vielen Blickwinkeln betrachtet: aus Sicht seiner Mutter, seines Sohnes, seiner Frau, seiner Schwiegermutter, des Pfarrers, der Pfarrersköchin, Hermann Gesslers und aus der Sicht der Schergen Gesslers, die Tell aufm Kieker haben. Ich kenne die historische Geschichte und wie sie die Schweizer erzählen, da ich im Jahr 1987 in der Schweiz als Kellnerin gearbeitet habe. Der Kanton Schwyz, in dem die Erzählung spielt, ist nur einen Berg über den Klausenpass und einen Katzensprung von Braunwald im Kanton Glarus entfernt. In den Bergen erzählen die Einheimischen mit Begeisterung diese Sage, da sie sich alle mit den Wilderern identifizieren. Mein damaliger Chef war auch so einer, der immer aus dem Restaurant rauf auf den Berg ist und in aller Früh und in den Zimmerstunden (Pause zwischen Mittagessen und Abendvorbereitungen) Gämsen geschossen hat. Aber nicht nur Tell sondern auch Hermann Gessler ist tiefgründiger und neuartig, also völlig abweichend von Schillers Figur gezeichnet. Er wurde vom Kaiser als Landvogt eingesetzt und soll das Gesetz der Habsburger durchsetzen, zum Beispiel dass alle Wildtiere dem Kaiser gehören. Der neue Landvogt ist in diesem Werk aber gar nicht machtbesessen und sadistisch gezeichnet, sondern eher desinteressiert an dem Job, in den ihn sein Vater gedrängt hat. Er leidet an Heimweh nach seiner Frau und der Tochter. Die eigentlichen Verbrecher sind Gesslers bewaffneten Schergen, denn sie setzen das Gesetz des Kaisers brutalst hinter dem Rücken ihres Chefs um und schikanieren zudem mit Begeisterung die Landbevölkerung. Diese Soldaten waren schon vor dem neuen Landvogt unter einem anderen Vertreter des Kaisers im Amt und haben unter dem Deckmantel der Rechtsdurchsetzung in der Rolle der bewaffneten Machtausübenden schon lange ein Terrorregime errichtet. Die Soldaten verachten Gessler als Weichei, sind ständig bis zum Anschlag betrunken, grundlos gewalttätig und ersinnen immer neue Schikanen und Übergriffe auf die Bevölkerung, was dann auch Gesslers Hut erklärt, dem alle Bauern unbedingt huldigen müssen, auch wenn sie ihn gar nicht wahrgenommen haben. Auch das ist ein innovativer Aspekt der Neuauflage. Die Geschichte mit dem Apfel resultiert ebenso aus einem Saufspiel der Schergen. Als die Soldaten Tell töten wollen, weil er Gesslers Hut gar nicht gesehen hat und ihn infolgedessen auch nicht grüßen konnte, will ihm Gessler eine Chance geben, da er weiß, wie gut der Bauer schießen kann. Nachdem Tell gewonnen hat, wird er dennoch verhaftet, weil er angeblich einen zweiten Pfeil eingesteckt hat, um Gessler zu töten, ob ihm dieser von einem Soldaten untergeschoben wurde wird nie aufgedeckt. Deshalb wollen die Soldaten Tell in den See werfen. Tell kann aber schwimmen und sich retten. Ab der Rettung des Helden aus dem See weicht der Plot massiv von Schillers Geschichte und von der Sage ab. Was abgesehen von mehreren alternativen Handlungsszenen und der tiefen Entwicklung der Figuren auch noch rüberkommt, ist diese gut vermittelte Stimmung im Mikrouniversum der Schweizer Berge. Die Gipfel, die Täler, die weiten Wege, die feindliche Natur, der Überlebenskampf und der Hunger, die Wortkargheit und das Misstrauen der Einheimischen, die Unterdrückung und die Gewalt, die allen angetan wird. So eine ähnliche wabernd bedrohliche Stimmung habe ich schon einmal mit Begeisterung gelesen. In Das finstere Tal , was nicht überrascht, denn die Landschaft und die Verhältnisse waren ähnlich. Fazit: Die Neuinterpretation eines Klassikers ist in diesem Fall gut gelungen. Finde den Schmidt sogar spannender als den Schiller; 😀 *duckundweg* Leseempfehlung!

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