awogfli
Eine grandiose Idee von Andrej Kurkow, sich des Genres eines historischen Krimis zu bedienen, um in seinem Roman eigentlich, beziehungsweise zusätzlich ein Gesellschaftsbild während der bolschewikischen Revolution in der Ukraine in Kiew zu zeichnen. Normalerweise mag ich es nicht so sehr, wenn Romane mit dem Etikett eines Krimis gelabelt werden, die gar nicht ins Genre passen, um das Buch besser zu verkaufen. Hier passt aber streng genommen die Genrebezeichnung sehr gut, denn Protagonist Samson klärt, durch die Revolution als ungelernter Hilfskommissar in eine Polizeieinheit gespült, tatsächlich kleinere und größere Verbrechen auf. Der Gurardian hat das Buch, respektive den Autor im Zusammenhang mit der Geschichte sogar als ukrainischen Murakami bezeichnet, was wahrscheinlich an zusätzlich eingebauten phantastischen Elementen liegt. Der Vorteil von Kurkov ist, dass er den Roman im Gegensatz zu Murakami kürzer hält und sich weniger hoffnungslos in der Fantasie und im Plot verirrt und verstrickt. Im Gegenteil, die fantastischen Elemente sind punktgenau eingesetzt und bringen die Handlung weiter. Warum ich diese Mischung und das Ausreizen der Genregrenzen hier schon zu Beginn erwähne, ist auch leicht erklärt. Wer hier einen klassischen Krimi erwartet, wird möglicherweise enttäuscht sein, es sollte aber niemanden davon abhalten, dieses ausgezeichnete Buch zu lesen. Protagonist Samson hat nach der russischen Revolution Schlag auf Schlag seine ganze Familie verloren, die Mutter und die Schwester sind erkrankt und gestorben, der Vater wurde vor seinen Augen von Rotarmisten umgebracht. Auch Samson hätte sterben sollen, aber da ihn der Vater in seinem letzten Atemzug noch weggestoßen hat, wurde mit dem tödlichen Säbelhieb nur das Ohr unseres Protagonisten abgeschnitten. Samson verlässt den Tatort mit seinem Ohr und positioniert dieses in einer Dose in Vaters Schreibtisch. Am besten ist die fantastische Idee, dass das abgeschnittene Hörorgan noch immer mit Samson verbunden ist und alles, was seiner turbulenten Geschichte in der Umgebung des Schreibtisches akustisch passiert, direkt in den Kopf des Protagonisten sendet. Das Ohr fungiert also als externe Wanze von Samson. Durch die Wirren der Revolution wird zuerst Samsons große Wohnung von zwei Soldaten besetzt und anschließend Vaters Schreibtisch inklusive mehrerer Kisten mit Wäsche ins nahe Polizeipräsidium akquiriert. Als er sich darüber beschweren will und einen schriftlichen Antrag mit Sachverhaltsdarstellung niederschreiben muss, wird sein Talent für strukturierte Darstellung, logisches Denken und Berichtswesen erkannt. Aus Personalmangel wird er vom Fleck weg als Hilfskommissar engagiert. Samson wächst sukzessive an seiner neuen Aufgabe und deckt mit seinen unkonventionellen Methoden mehrere Diebstähle und zwei Morde auf. Dabei hilft ihm mitunter auch seine Ohr-Wanze, die die meiste Zeit im Schreibtisch des Vaters im Polizeipräsidium liegt. Insofern ist das Versprechen des Kriminalfalls auf dem Cover eingelöst. Was ich aber zusätzlich in dieser Geschichte noch bekommen habe, ist ein Sittenbild der russischen Revolution und Invasion der Revolutionsgarden in der Ukraine. Die Gewalt der Bewaffneten, das Morden, die Korruption, Raub und Diebstähle privat und staatlich als Akquise bezeichnet, die Drangsalierung der Zivilbevölkerung, die Angst der UkrainerInnen vor den gewalttätigen Usurpatoren und auch die Kollaboration mit den Machthabern, Bürokratie und der Versuch, nach dem Blutvergießen allem Vorgehen einen rechtsstaatlichen Anspruch zu geben, innovative Methoden der Bevölkerung sich durchzulavieren und zumindest am Leben zu bleiben, bestimmen den Alltag der geschilderten Gesellschaft. Dieser Aspekt der Geschichte hat mir am besten gefallen und die Darstellung erinnert mich frappant an die Situation in der Ukraine 2014 beziehungsweise 2022. Insofern freue ich mich auch schon sehr auf das neueste Werk von Kurkov: Tagebuch einer Invasion, das bereits auf meinem Nachttisch liegt, denn der Autor ist wirklich ein brillanter Analyst. Der letzte Satz im Buch lautet: "Ende. Aber Fortsetzung folgt." Was auf einen zweiten Fall für Kommissar Samson und auf eine Weiterführung der beginnenden Liebesgeschichte mit Nadjescha hoffen lässt. Würde mich sehr freuen. Fazit: Leseempfehlung! 4,5 Sterne diesmal wohlwollend aufgerundet auf 5