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awogfli

Posted on 10.10.2022

Am Anfang war ich schwer begeistert von dieser Geschichte. Zwei grad in die Pubertät kommende, rotzige Teenagergören – wie Teenager manchmal sind, wenn sie provozieren und rebellieren – sind dicke Freundinnen in einem kleinen Dorf auf Teneriffa und werden mit all ihren Problemen und Gefühlen authentisch geschildert: Dysfunktionale Familien, Auflehnung gegen eine toxische Großmutter, Vernachlässigung durch berufstätige Eltern, die rund um die Uhr arbeiten, erste sexuelle Gefühle, Unsicherheit, eine Mädchenfreundschaft mit ihren Machtverhältnissen, die Langeweile des kleinen Dorfes, die Armut, ein bisschen Kreativität und Fantasie. Relativ schnell, nach und nach setzte jedoch der Charlotte-Roche-Effekt ein, denn im Bestreben der Autorin, mehr und mehr zu schockieren, zu provozieren und erneut ein Schäuflein draufzusetzen, indem durch die minderjährigen Protagonistinnen rotzig inflationär Sex und Fäkalsprache angewandt wurde, nutzt sich solch ein Konzept sehr schnell ab, wird sterbenslangweilig und erzeugt bei mir nur noch genervten Gewöhnungseffekt. Vor allem auch, weil Plot und Figurenentwicklung auf weiten Strecken des Romans völlig vernachlässigt werden. So wie Gewalt muss auch Provokation wohldosiert eingesetzt werden, sonst sind die Geschichte und die Autorin in ihrer eigenen Krawallrolle gefangen. Bei Charlotte Roche, die ich als Namensgeberin für diesen Effekt herangezogen habe, ist zumindest klar, dass sie den Rest auch könnte, das zeigen ihre Folgeromane Schoßgebete und Mädchen für alles , deren nicht unspannende Inhalte aber eben auch völlig im Getöse des Skandals und der im Vordergrund immer alles überlappenden Provokation untergehen. Ähnlich ist es in diesem Roman passiert, wobei ich mich noch gar nicht festlegen möchte, ob ich der Autorin überhaupt Dramaturgietalent zutraue. Nach all den sich lähmend steigernden Aufregern, die beste Freundin Isora nennt die Protagonistin Shit, ihre toxische Großmutter Bitch und tausend anderer kleiner pseudo-skandalösen Aussagen, gepaart mit einer völligen Langeweile im Handlungsaufbau, die wahrscheinlich die Langeweile der Teenager in den Ferien zelebrieren soll, tritt auf Seite 134, also bei mehr als zwei Drittel des Romans in Katatonie, endlich ein Ereignis ein, das die Figuren vorübergehend verändert. Isora hat Shit gegen ihr Unbehagen dazu gedrängt und überredet, zudem auch noch gegen das ausdrückliche Verbot ihrer Eltern, spät am Abend mit ihr und zwei Buben mitzugehen. Isora, die ihre beste Freundin in diese gefährliche Situation gebracht hat, lässt sie aber plötzlich alleine stehen und Shit wird von einem der Jungen vergewaltigt. Hier zerbricht die Freundschaft kurzfristig, denn Shit fühlt sich von ihrer Freundin im Stich gelassen und verraten, was ja auch einer realen Einschätzung entspricht. Nach einem Eklat mit einer Schlägerei zwischen den beiden gehen sich die Mädels wochenlang aus dem Weg. Die arme, vergewaltigte Shit ist völlig alleingelassen. Sie leidet nicht nur an dem, was ihr angetan wurde, sie kann sich nicht einmal ihrer Verwandtschaft, zum Beispiel der recht liebevollen Großmutter anvertrauen, und hat auch noch ihre einzige Vertraute und beste Freundin verloren. Mangels Alternativen versöhnen sich die beiden Mädchen irgendwann nach ein paar Wochen wieder, ohne sich auszusprechen oder irgendetwas anzusprechen, was am Schicksalstag passiert ist. Sie sind einfach wieder zusammen, weil es zu wenig andere Kinder auf der Insel gibt. Auch sonst gibt es keine Ereignisse, Figurenentwicklungen oder irgendwelche Konsequenzen. Die Vergewaltigung wird unter den Teppich gekehrt, niemandem erzählt und verdrängt, der Verrat von Isora und die daraus resultierende Krise in der Freundschaft totgeschwiegen, das Leben und die Langeweile auf der Insel gehen wieder ihren Lauf. "Die Hunde bellten. Die Sonne spaltete die Steine. Das sind die letzten beiden Sätze, so als sei nichts passiert. Was bleibt, sind Schimpfworte und Handlungsarmut. Ich hätte ja eine Schwangerschaft als Folge der Vergewaltigung in die Geschichte eingebaut, dann hätten sich wenigstens alle mit der Tat und den Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Aber hier verpufft jegliche Bewegung im warmen Herbstwind von Teneriffa Fazit: Forsch und furchtlos im deutschen Titel ist sehr treffend für diesen Roman. So etwas als einziges Konzept reicht aber nicht aus, dass eine Geschichte mich nachhaltig interessieren kann. Ich muss bedauerlicherweise in dem Fall auch noch ein substanzlos als Eigenschaft des Romans hinzufügen.

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