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awogfli

Posted on 30.9.2022

Selten traf ein Buchtitel so punktgenau auf eine jüdische Kurzgeschichtensammlung zu wie in diesem Falle. Jede jiddische Figur führt in diesem Werk eine riesengroße Reisetasche mit sich voll mit Erinnerungen, Gschichtln, Anekdoten, Witzen, Familienschicksalen, Träumen, Märchen, Sagen, Sprichwörtern, Binsenweisheiten, jiddischen Ermahnungen, trägt diese dann auch ständig mit sich herum und zitiert daraus während des ganzen Lebens, sei es im Schtetl (kleines Dorf), bei vorübergehender Abwesenheit wegen der Ausbildung in großen Städten und anderen Ländern, auf der Flucht vor Pogromen und Krieg, oder bei der Auswanderung beispielsweise nach Israel und in die USA. Kurzgeschichten sind für mich ja meist sehr problematisch herausfordernd, denn ich habe höchste Anforderungen an diese Literaturform, die von vielen AutorInnen einfach nicht erfüllt wird. Erstens sollten die Stories für sich einzeln betrachtet richtig gut sein, trotz ihrer Kürze einen guten Spannungsbogen im Plot aufweisen, mit einer schlüssigen Handlung und einem ordentlichen Finale aufwarten und zudem meine Ansprüche an die Figurenentwicklung befriedigen, damit ich wirklich in den Bann gezogen werde. Abgebrochene Szenen und nicht vollendete Romanteile, quasi die Ablage und die Nebenprodukte des Schreibens, haben in dieser Literaturform für mich nichts verloren. Diese hohen Ansprüche hat Boris Sandler schon mal sehr gut erfüllt. Zweitens erwarte ich aber auch in der Zusammenstellung der Geschichten Konsistenz bezüglich der Themen und einen roten Faden. Das wurde vom Autor derartig grandios übererfüllt, dass ich nur noch begeistert war. Alle Erzählungen beschäftigen sich mit jiddisch osteuropäischer Identität ausgehend von Bessarabien, das ist die heutige Republik Moldau. Da das Land eine bewegte Vergangenheit aufweist, gibt es sehr viel zu berichten: Geschichten aus einem kleinen Schtetl, russische Okkupation, aufgezwungener sowjetischer Lebensstil, Assimilation versus Abgrenzung, Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, Revolution und Flucht, weil man zwischen die Fronten geraten ist, Diaspora während des 2. Weltkriegs überall hin nach Israel, USA, London, Rumänien oder sonst wohin, Leben in der Fremde von Misserfolg oder Erfolg gekrönt. All diese Schicksale haben aber eines gemeinsam, die Herkunft der jiddischen Protagonisten fußt im ländlichen Bessarabien und seien sie noch so weit weg, treffen sich zum Beispiel zufällig in Brooklyn New York, sie führen das kleine Schtetl und ihre Identität mit in ihrer Reisetasche, aus der sie einen unerschöpflichen Vorrat an Gschichtln herausholen. Die Konsistenz und der Zusammenhang zwischen den Erzählungen untereinander geht sogar so weit, dass man das Gefühl hat, das kleine fiktive osteuropäische Dorf, irgendwo im Nirgendwo, hätte mehr als 1000 Einwohner, jeder kennt jeden, alle Familien werden mit all ihren Mitgliedern genau gezeichnet, man lernt wirklich jeden einzelnen kennen und eingeführte Protagonisten tauchen in anderen Erzählungen als periphere Notiz wieder auf, so a la die jiddische Welt, egal wo sie stattfindet, ist ein Dorf. Inhaltlich werden natürlich viele Themen in unterschiedlichen Formen angeboten. Da gibt es schräge Erzählungen über Nasen, eine erotische Fantasy mit Katzen, viele Schicksale in der Fremde und einiges mehr. In der Gesamtschau ergibt das einen wundervollen Rundumblick auf den bessarabischen Kulturkreis, der nur so von jiddischer Erzählkunst, -lust, Tragik, Humor, Fantasie und Weisheit strotzt. Das ist wundervoll! Hier ein paar Beispiele: Ich sah wie sich Tausende Menschen über Wege schleppten. Von oben betrachtet sahen sie zusammen aus wie ein fetter, kriechender Wurm, ein glitschiger, blinder, der nicht weiß, wohin er kriecht. Aus der Nähe gesehen waren sie aber ausgezehrte Männer, Frauen und Kinder. Sie wurden „Flüchtlinge“ genannt. Das ewige Wandern zu Tag und zu Nacht, wohin die Füße sie trugen, der Bewegung des Wurmstroms folgend, ließ sie alle gleich aussehen – erschöpft, ohne Willen und ohne Kraft. … der Mann bleibt verschwunden. Kurzum, eine bekannte Geschichte bei Juden, das heißt, einst pflegten die Männer in Europa von ihren Frauen nach Amerika wegzulaufen. Jetzt stellt sich die Frage: Wohin kann ein Mann entkommen, wenn er schon in Amerika ist. Ich lag auf der Seite beim Lagerfeuer, sah in die Tiefe des Himmels und dachte, dass die Myriaden Sterne sicher Zeugen von vielen Pogromen und Erniedrigungen meines Volkes gewesen waren. Als ich jung war, wollte ich vor meiner Jüdischkeit fliehen, aber das „Pintele Jid“, die Quintessenz meiner jüdischen Identität, holte mich jedes Mal wieder ein, brachte mich zu meinem Ursprung zurück und tauchte mein Gesicht in meine Abstammung – vergiss nicht, wer du bist! Als einzigen winzigen Kritikpunkt möchte ich die Auswahl der allerletzten Erzählung anführen. Da man manchmal fast das Gefühl hat, sich in einem Roman über die Lebensgeschichten der Mitglieder eines kleinen Dorfes zu befinden, bietet das Finale einfach keine Klammer keinen Schlusspunkt. Die letzte Story endet im Gesamtaufbau zu abrupt und ist einfach aus. Lohnend hervorheben möchte ich auch noch das ausführliche Glossar, das historische Hintergründe liefert und russische, beziehungsweise jiddische Ausdrücke ausnehmend gut erklärt. Fazit: Ein Feuerwerk jiddischer Erzählungen, ich bin begeistert, wärmste Leseempfehlung! Fast wie die Tante Jolesch aus der Republik Moldau.

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