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Familie und Trauma Eine Familie und die großen Tragödien, die auch den Alltag und das persönliche Leben beeinflussen, ererbtes und eigenes Trauma das sich durch die Familiengeschichte zieht - in ihrem Roman "Die Stimme" verbindet die niederländische Autorin Jessica Durlacher die Geschichte einer Familie mit Reflektionen über Gewalt, Terror und das Leben in Angst. Das beginnt schon am vermeintlich schönsten Tag der Ich-Erzählerin Zelda: Ihr Lebensgefährte Bor, mit dem sie bereits zwei Kinder hat, will sie endlich heiraten und hat bei einem New York-Besuch dafür den Besuch bei einem Rabbi organisiert. Beim Empfang auf der Dachterrasse in Manhattan ist ein Kind plötzlich abgelenkt - etwas steckt in einem Wolkenkratzer, könnte das ein Flugzeug sein? Statt Hochzeitsfeier beginnt die panische Flucht durch Staub ud Trümmerteile. Der 11. September ist der Tag, an dem selbst für die Kleinen ein Stück Kindheit endet. Jahre später erlebt Zelda mit ihrer Tochter und der Familie des ältesten Sohnes aus ihrer ersten Beziehung in ihrer Wohnung in Tel Aviv die Vereidigung der neuen US-Präsidentin mit, als sie unter den Gästen ein Gesicht sieht, das zu ihrer Vergangenheit in den Niederlanden gehört - und während ihre Erinnerungen einsetzen, erfahren auch die Leser, worum es eigentlich geht in der Geschichte. Denn nachdem das polnische Au-Pair-Mädchen in die Heimat zurückgekehrt ist, muss sich die Psychologin Zelda auf einmal wesentlich stärker als bisher mit ihrer Mutterrolle auseinandersetzen, Elterntaxi spielen, die Kinder betreuen und sie stellt fest: Bei aller Liebe zu ihren Kindern ist das nicht wirklich ihr Ding. Ehemann Bor ist als Anwalt mit politischen Ambitionen ständig bei der Arbeit und deshaln keine Hilfe. Zeit für eine neue Nanny. Hier kommt Amal ins Spiel, eine junge, aus Somalia geflohene Frau, die stets lange, verhüllende Gewänder und ein Kopftuch trägt, aber auch ein beträchtliches Charisma hat. Mit dem zehnjährigen hochbegabten Sam teilt Amal Liebe zur Musik. Als Zelda Sam von der Musikschule abholen will, erlebt sie eine Spontanaufführung der beidenund bemerkt Amals Talent und Ausstrahlung. Die Familie meldet Amal beim TV-Wettbewerb "Die Stimme" an und dabei überzeugt Amal nicht nur mit ihrem Auftritt, sondern entscheidet sich zu einer dramatischen Geste, als sie sich das Kopftuch abreißt und ihre Stimme gegen die Unterdrückung von Frauen in ihrer Heimat erhebt. Danach ist nichts mehr wie vorher: Es gibt Todesdrohungen gegen Amal, sie muss sich verstecken. Trotz aller Angst um ihre Kinder bieten Zelda und Amal ihr an, in ihrem Gartenhäuschen unterzukommen. Hatten sie anfangs noch gezaudert, ausgerechnet ein muslimisches Kindermädchen anzustellen, ist es für das Paar, beide Kinder von Holocaustüberlebenden, quasi eine Chance, die eigene Familiengeschichte zu durchbrechen: Nun sind sie es, die Schutz anbieten können und nicht auf Schutz angewiesen sind. Nach einer Kindheit, die sie damit verbrachte, ihren Vater nie zu enttäuschen und eine perfekte Tochter zu sein, weil er so viele seiner Angehörigen verloren hatte, in der sie nicht wagte, Fragen zu stellen, kann sie nun der schutzbedürftigen Amal Fragen stellen. Doch was bedeutet das Engagement für die Sicherheit ihrer Kinder, das Leben der Familie? Durlacher zeichnet Zeldas Dilemma wie mit feinen Strichen, führt ihre Leser durch Zeitsprünge und Überlegungen, vermeidet dabei Schwarz-Weiß-Bilder oder Glorifizierungen. Zugleich liegt beim Lesen immer auch die Ahnung einer Tragödie zwischen den Seiten. Wie die Autorin ohne Brachialbeschreibungen Spannung schürt, neugierig macht und Zeldas Zweifel und Hoffnungen schildert, das macht "Die Stimme" zu einem wunderbaren Leseerlebnis.