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awogfli

Posted on 2.9.2022

Ehrlich gesagt, kann ich die Begeisterung über dieses Debüt so gar nicht nachvollziehen. Gemäß einer anscheinend derzeit grassierenden Modeerscheinung in der anspruchsvollen Literatur muss der Plot immer total zerhäckselt und die Szenenwechsel quer durch Zeiten und Locations im Stakkato eingeworfen werden, sodass man sich nicht mehr auskennt, welche Figur überhaupt wer ist und von den stroboskopartigen Perspektivenwechseln in Form einer Montage der Handlungsstränge einen Drehwurm bekommt. Warum muss immer diese Figurenverwirrung künstlich durch Bruch im Erzählfluss erzeugt werden? Ist das der Anspruch an moderne Literatur, soll das innovativ sein? Könnten nicht mal zur Abwechslung anspruchsvolle Sprache präsentiert, ein schöner, konsistenter, nicht verwirrenden Plot formuliert und die Figuren tief entwickelt werden? Eine gute Geschichte ist ja nicht zwangsläufig ein anstrengendes Puzzle oder Sudoku, das man sich immer mühevoll zusammenbasteln muss. Was all den Freunden dieser dekonstruierten Literatur nämlich manchmal zu entgehen scheint, ist der Umstand, dass bei dieser „innovativen“ Erzählform neben dem konsistenten Plot auch die Figurentiefe total verlorengeht, weil man sich immer nur mit der Aufmerksamkeitsdauer einer Fruchtfliege ein paar Minuten am Stück mit den Protagonisten beschäftigen kann, denn sofort wird schon wieder eine neue Person aus einer anderen Zeit auf der nächsten Seite auf das Blatt gezerrt. Versteht mich nicht falsch, ich bin als literarische Realistin nicht völlig gegen innovative Konzepte, aber hier wird diese Strategie meiner Meinung nach so inflationär angewandt, dass ich auch nach zwei Dritteln des Romans noch keinen erzählenswerten Plot, keine konkreten Vorfahren mit tiefer psychologischer Entwicklung ausmachen konnte, deren Leben Einfluss auf die Ich-Erzählerin hatte und bei dem Figurengewusel quer durch die Zeiten, alle Verwandtschaftsverhältnisse auch extrem lange nicht auseinanderhalten konnte. Das ist nicht, weil ich blöd bin, sondern weil mir bei der erzwungenen Leserverwirrung der Kontakt zu den handelnden Charakteren völlig abhandengekommen ist. Sie sind mir irgendwann nach sechzig Prozent der Geschichte total egal geworden. Zur Ehrenrettung der Autorin muss ich schon gestehen, dass sich am Ende alles auflöst, aber da war mir schon lange der Geduldsfaden gerissen. Zudem ist gerade die Herkunft einer Person eine durchaus chronologische Angelegenheit, auch wenn sie sich aus Schnipseln vieler Locations und unterschiedlicher Familienstränge zusammensetzt, da braucht man nicht zusätzlich noch Generationen ganz wild durcheinanderwirbeln. Extrem wirr und dysfunktional ist die gesamte Familie auch nicht, als dass ich nun zugestehen könnte, dass der auf konfus getrimmte Plot den zu transportierenden Inhalt unterstreichen sollte. Ach ja, die Geschichte, die ich bei all den Plot-Scherben herausklamüsert habe, die darf ich nicht vergessen. Sorry dafür, dass sie so kurz wird, aber meine Probleme damit habe ich schon vollumfassend dargelegt. Drei Generationen, viele Verwandte, mehrere Locations in der Schweiz und in Österreich, etwas Rassismus durch die italienischstämmigen Großeltern, die sich in der Schweiz niedergelassen haben, ein bisschen Nazivergangenheit, zweiter Weltkrieg und starke Frauen, uneheliche Kinder, eine gewalttätige Vater-Sohn Beziehung, die nie reflektiert wird, eine junge Frau in der Gegenwart auf der Suche nach Identität, naja nix Gravierendes und eine ganz normale Familienbiografie in der deutschsprachigen Region. Fazit: Für mich nur wirr und anstrengend, aber nicht im guten, herausfordernden, sondern im schlechten, nervigen, fast schon kranken Sinn. Gar kein Buch, das ich als literarische Realistin empfehlen möchte. Jemand hat es als multiperspektivisch beschrieben und das trifft den Nagel auf den Kopf, denn mir war es zu Multi. Ich will mich beim Lesen wirklich nicht so fühlen, als hätte ich ADHS, genauso ging es mir. Es gibt aber sicher sehr viele Fans, für die dieses Debüt punkgenau gemacht ist.

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