Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 21.7.2022

Dieser für den Leo-Perutz-Preis nominierte Kriminalroman weist ein interessantes, sehr modernes Setting auf, das sich mit Künstlicher Intelligenz und deren Anwendungen in der heutigen Zeit beschäftigt. Hier ist die Autorin ganz in ihrem Metier, hat sie doch Informatik auf der Johannes-Kepler-Universität in Linz studiert und war vor ihrer Pensionierung und Schriftstellerkarriere IT-Leiterin. Ihre geballte Fachkompetenz fließt auch merklich in die Handlung ein, was die Ausgangsituation für den Roman recht außergewöhnlich, innovativ und spannend macht. Leider kommt ihre strukturierte Denk- und Schreibweise der Rasanz des Plots nicht ganz so entgegen, was der Handlung bezüglich systematischer Polizeiarbeit einiges an Längen beschert. Das ist zwar wahrscheinlich eine sehr genaue Beschreibung dessen, was Ermittler in der Realität wirklich tun, nämlich warten, strukturieren, verhören, analysieren, nachdenken, Zusammenhänge finden, warten … , aber Himmelherrgott wir sind hier in der Fiktion, da kann man schon ein bisschen zuungunsten der Realität an der Spannungsschraube drehen. Der Beginn ist also grandios geplant. Die Polizei, respektive Ermittler Leo Lang und seine Kollegin Cleo, informieren die Ehefrau des gerade gefundenen Opfers Adrian Stuiber, doch diese hält das Ganze für einen schlechten Witz, weil ihr Mann schon seit einem Jahr an Krebs verstorben ist. Zudem hat Frau Stuiber sich erst gestern mit ihrem Mann unterhalten. Nein, sie ist ob des Mordes nicht verrückt geworden. Adrian Stuiber hatte mit einigen Kollegen eine KI-Softwarefirma, die täuschend echte Avatare programmiert, um unter anderem Angehörige von Verstorbenen zu trösten. Das Ganze erinnert frappant and Philip K. Dicks Ubik, nur mit dem Unterschied, dass zum Zeitpunkt von Dicks Romanen diese Technologie noch in den Bereich der Science-Fiction fiel, heutzutage kann hierzu mit selbstlernender künstlicher Intelligenz leicht solch ein Produkt auf den Markt gebracht werden. Die KI-Firma des Opfers macht also lebensechte intelligente Avatare, die den Turing-Test bestehen würden. Nach ein paar Verhören mit Kunden wird aber auch das Ausmaß der Produktpalette inklusive aller moralischer Implikationen klar, denn Stuiber reanimiert quasi nicht nur Verstorbene lebensecht, sondern generiert rein fiktive Personen mit bestimmten Charaktereigenschaften als Freunde, entwickelt Sexgespielinnen jeden Alters für Männer, erschafft verbesserte reale Personen, die noch gar nicht gestorben sind und konstruiert sogar Hundeandroiden, die man streicheln kann. Um zur Ausgangssituation zurückzukehren, gibt es neben den Kunden noch viele weitere Verdächtige, denn der eigentlich schon vor einem Jahr an einer Krankheit gestorbene Adrian Stuiber hatte bis zu seinem wirklichen Tod auch noch eine Lebensgefährtin mit Baby, die wie Münchhausen den Hang zum Lügen pflegt und viele Feinde, da er sich das zweite, sehr luxuriöse Leben durch Erpressungen verdiente. Er erpresste nicht nur seine Kunden, die bei der Kommunikation mit den Avataren persönliche, und teilweise strafrechtlich relevante Geheimnisse preisgaben, sondern auch seine Teilhaber in der Firma. Zudem arbeitete er in seine eigene Tasche an seinen Gesellschaftern und der Firma vorbei mit neuen Kunden, deren Anforderungen an den Avatar moralisch gar nicht ins Leitbild der Firma passen. Er hat quasi auf alle moralischen Vorgaben gepfiffen. So eine Figur ist halt auch deshalb wundervoll skizziert, da hier in Verhören und Analysen großartig das Thema Ethik und künstliche Intelligenz diskutiert werden kann. Das ist der eigentliche Mehrwert des Krimis. Gegen zwei Drittel des Romans zieht sich dann die Handlung, wie schon eingangs erwähnt wird halt systematische Polizeiarbeit ganz genau beschrieben: unzählige Leute verhören, Videos der Avatare stundenlang sichten, Schuhgrößen eruieren (möglichst nicht direkt), Abstimmungssitzungen, in denen Ergebnisse präsentiert, abgeglichen und diskutiert werden. Sonst passiert nicht viel in der Handlung. Das ist auch mein Kritikpunkt an der Geschichte, denn das Tempo war nicht nur etwas zu gemächlich, es fehlte mir irgendwann einmal schmerzlich. Der Kriminalfall wird letztendlich schlüssig und sehr gut gelöst, da gibt es gar nichts zu motzen, aber mir dauerte das alles zu lange, und durch die gemächliche strukturierte Aufarbeitung gab es dann natürlich auch keine Überraschung im Plot. Die Figuren, vor allem jene der Verdächtigen, sind ausnehmend gut und tief entwickelt, gerade weil sie so genau vom Team analysiert werden. Auch die Polizeieinheit wird ganz gut beschrieben, es könnten aber einige wenige Hintergrundinformationen fehlen, da der Krimi bereits Band drei einer Reihe ist. Von meiner Einschätzung her, glaube ich aber, dass es nicht notwendig ist, alle Vorgänger zu lesen, um hier ausreichend mit Material zu den Protagonisten versorgt zu sein. Wenn ihr einen Krimi der Reihe zusätzlich lesen wollt, dann nehmt Die Akte Kalkutta. Auf jeden Fall ist Protagonist Leo Lang auch noch von Beziehungsproblemen gebeutelt, die er irgendwie, ganz im Gegensatz zu Ermittlern anderer Autoren, konstruktiv lösen möchte. Das ist eigentlich sehr charmant und ein bisschen paartherapeutisch umgesetzt, wobei sich Leo nicht um professionelle Therapie bemüht, sondern seine Kollegin Cleo um Hilfe bittet, ihm zu sagen, was er falsch gemacht hat und wie er seine Fehler wieder zurechtbügeln kann. Fast schon süß, wie Leo generalstabsmäßig plant, seine Marlene zurückzugewinnen. Fazit: Ein sehr interessantes, innovatives Setting mit guter Hintergrundgeschichte, das aber ob der strukturierten Denkweise und des gemächlichen Erzähltempos durchaus ein paar Längen aufweist. Ich persönlich würde den Krimi oberhalb des Mittelfeldes ansiedeln.

zurück nach oben