Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 11.7.2022

Wow! Was für eine großartige Geschichte! Die niederländische Autorin Jessica Durlacher hat es sich seit jeher zum Ziel gemacht, der Leserschaft eine moderne jüdische Sicht auf die Welt und deren Ereignisse zu vermitteln. Basierend auf der Großelternerfahrung mit der Shoa thematisiert sie sehr viele zeitgemäße moderne Aspekte der jüdischen Identität und der Aufarbeitung von Traumata in den Folgegenerationen, die sie sehr spannend und mit wortgewaltiger Sprachfabulierkunst umsetzt. Schon ihn ihrem Roman Der Sohn und Die Tochter verschrieb sie sich diesem spannenden Konzept, in dem die moderne jüdische Sicht und Identität auf das jüdische Selbstverständnis und die Verdrängungsmechanismen der Kriegsgeneration prallt. Ihr aktueller Roman Die Stimme bearbeitet nun ein anderes Feld, nämlich den jüdischen Blickwinkel auf den Antisemitismus und das Ehr- und Frauenverständnis der Muslime. Dieser Roman hat mich wirklich restlos begeistert. Die Story beginnt mit einem sensationellen Auftakt! Rechtsanwalt Bor, der sich nach zwei gemeinsamen Kindern jahrelang vor der Ehe gedrückt hat, überrascht Psychotherapeutin Zelda mit einer spontanen Heirat im Urlaub in New York. Ein progressiver Rabbi ist nach einigen Vorbereitungen bereit, die beiden um 8:30 auf dem Dach seines Hochhauses über seiner Wohnung zu trauen. Das Datum dieses für die Familie inklusive der drei Kinder ins Gedächtnis eingegrabene Ereignises ist der 11.9.2001. Die Zeremonie stört plötzlich unerträglicher Lärm. Live kriegt die Family einen Häuserblock weiter mit, wie die Flugzeuge im benachbarten World Trade Center einschlagen. Die vom Nordturm und Südturm springenden verzweifelten Menschen, die klar erkennbar neben ihnen vom Dach in die Tiefe segeln und die Flucht der Familie aus dem Haus des Rabbis raus aus der Gefahrenzone durch den Staub und die herabfallenden brennenden Trümmer, haben die ganze Familie inklusive der Kinder extrem traumatisiert. Zurück in den Niederlanden, etwas später, trifft Zelda bei einem Spaziergang die Somalierin Amal aus dem benachbarten Flüchtlingsheim. Amal hat eine großartige Ausstrahlung und auch Zeldas Kinder verlieben sich auf den ersten Blick in die streng nach dem Koran lebende Asylantin. Da Zelda ohnehin etwas Unterstützung bei der Kinderbetreuung sucht, kommt es schnell zum naheliegenden und für alle nützlichen Arrangement, dass die junge Frau zwei bis drei Tage die Woche als Nanny engagiert wird. Dabei prallen natürlich Welten aufeinander, sehr respektvoll nähern sich die Kulturen und die gesamte Familie an Amal an. Durlacher schafft das sehr gut, hier emphatisch auf Augenhöhe eine Integration der Werte zu konzipieren, die in der Aufnahme von Amal in die Mischpoche gipfelt. Sehr schnell kristallisiert sich zudem heraus, dass die junge Frau auch noch fantastisch singen kann. Zelda meldet sie deshalb bei der Fernseh-Casting-Show „Die Stimme“ (in Deutschland „The Voice of Germany“) an. Nach einem glanzvollen Auftritt nimmt Amal vor einem Millionenpublikum ihr Kopftuch ab und kritisiert in einem verbalen Befreiungsschlag auch noch den Propheten Mohammed und den Islam. „Ich stehe hier, weil ich frei sein will“, sagte Amal laut, ihre Stimme klang höher und schneidender als vorher, jedes Wort war schmerzhaft deutlich artikuliert. Im Saal herrschte Totenstille. „Freier als ich es bisher war. Und in fünf Jahren habe ich hoffentlich auch andere Frauen frei gemacht. Dadurch, dass ich singe, dass ich da bin, dass ich keine Angst habe. Ich stehe hier, weil ich mich für Frauen einsetzen will, die so sind wie ich. Die gezwungen werden, ein Leben für andere zu leben. Frauen, die von Männern geschlagen werden, jeden Tag, im Namen von etwas Nicht-Benennbarem und Unbegreiflichem. Frauen, die keine Chance bekommen, sich zu entwickeln und aufzublühen. Frauen, denen Allah verbietet, Freude an ihrem Körper zu haben, und die darum verstümmelt werden. Frauen, die vergewaltigt werden. Und anschließend dafür bestraft: verstoßen oder ermordet. Frauen, die nicht lieben dürfen, wen sie wollen.“ Nach dieser für die Familie auch völlig überraschenden, aber verständlichen Aktion bricht die Hölle los. Amal bekommt konkrete Morddrohungen und muss sich verstecken. Spontan entscheidet die Familie, die junge Frau in ihrem Gartenhäuschen aufzunehmen, denn ins Flüchtlingsheim kann sie ja nicht mehr zurück. Die dumpfe Bedrohung, die Ängste, die Geheimhaltung, die engagierten Bodyguards, die die Selbstbestimmung aller einschränken, das Auftreiben von finanziellen Mitteln für die rund um die Uhr Bewachung und die Auswirkungen aller Ereignisse auf jedes einzelne Familienmitglied werden sehr gut und auch aus vielen Blickwinkeln geschildert. Zeldas Mann Bor läuft in seiner Funktion als Anwalt, als Beschützer von Amal und als Bewunderer des Mutes und des Engagements der jungen Frau zur Höchstform auf. Die Gefahr ist auch ganz konkret, denn im Umfeld des ältesten Sohnes Philip gibt es ehemalige Klassenkameraden, die sich radikalisiert und Anschläge auf Amal geplant haben. Während des Finales zur Fernsehshow „Die Stimme“ kommt es dann trotz aller Sicherheitsvorkehrungen zur ultimativen Katastrophe. Der Roman ist an dieser Stelle aber noch nicht vorbei, und zuerst habe ich mich gewundert, ob die Story nun so ereignislos dahinplätschern würde. Das war aber weit gefehlt, alle weiteren Aspekte, die der Tragödie folgen, sind so genial geplant, dass es eine Freude ist und runden den gemeinsamen Weg der gesamten Familie mit Amal, den Ereignissen und den Tätern ab. Durlacher versucht, die Protagonisten mit dem Schicksal zu versöhnen und löst nicht aufgearbeitete Verletzungen und Traumata, aber nicht auf eine kitschige heppy-beppy-Art, sondern so, wie sie eine Psychotherapeutin, ergo die Hauptfigur Zelda, in einer Gesprächstherapie angehen würde. Dadurch entsteht eine großartige und runde Geschichte, die alle offenen Handlungsstränge abarbeitet und die Figuren quasi austherapiert. Ich liebe die Sprachfabulierkunst von Durlacher, sie formuliert wahre Kunstwerke von Sätzen, gleich zu Beginn des Buches wollte ich mir schon zehn Absätze aufmalen. Bei diesem Roman passt für mich alles: Der Plot ist genial konstruiert, die Figuren sind extrem liebevoll und tief entwickelt, sie hat eine wichtige Geschichte zu erzählen und stilistisch spielt die Autorin ohnehin in der Oberliga. Sogar ihre sonst übliche ganz leichte Schwäche, ein paar Längen im Handlungsaufbau einzubauen, hat sie überwunden. Fazit: Außer Lob gibt es zu diesem Roman nichts zu sagen, mir als ewige Suppenhaarfinderin fällt kein einziger Kritikpunkt ein …ergo: Buchstoffhöhepunkt! Lesen! Punkt!

zurück nach oben