awogfli
Zu Beginn war ich ob dieser Kombination sehr überrascht und vielleicht sogar ein bisschen irritiert, bringe ich die neue tschechische Literatur doch eher mit Kommunismus und dessen Auswirkungen und vielleicht noch mit jüdischer Literatur in Zusammenhang. Als ich aber nachdachte und in der Geschichte etwas weiter als bis zum Zweiten Weltkrieg zurückschaute, war mir dann irgendwann schon klar, dass eine esoterische Schule existierte und diese Hinwendung zum Übernatürlichen in der breiten Bevölkerung und in der Literatur durchaus üblich war, sieht man sich die Golem Geschichten aus Prag an oder liest ein paar Werke von Gustav Meyrink. Nachdem ich mich darauf einließ, fand ich doch sehr viel Gefallen am Setting dieses ungewöhnlichen Romans, der neben seiner ausufernden Esoterik zusätzlich auch sehr viel Realismus in Form von Mentalismus beinhaltet. Nun muss ich für alle, die die Serie The Mentalist nicht gesehen haben, den Begriff erklären. Mentalismus hat nichts mit übernatürlichen Fähigkeiten zu tun, er täuscht diese nur vor. Diese Technik, die verblüffende, scheinbar magische Fähigkeiten produziert, speist sich durch ein phänomenales Gedächtnis, durch viel Psychologie, Interpretation von Microemotionen im Gesicht des Gegenübers, Suggestionstechniken, durch Cold Reading, Hypnose und durch Tricks. Der Beginn der Geschichte liefert zuerst einmal ein etwas verwirrendes Szenario mit sehr vielen Figuren, die vordergründig noch nichts miteinander zu tun haben und viele unzusammenhängende Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit. Im Universum von Markéta Pilátová, verschwimmen gemäß der Regel des Magischen Realismus Vergangenes und Präsentes, denn die Geister der toten Vorfahren mischen sich massiv in die Handlung im Jetzt ein. Im Plot wird neben den Geistern noch ein breites Potpourri von weiteren esoterischen Faktoren und Figuren mit Fähigkeiten eingewoben, Wiedergeburt, Auralesen, Telepathie, Telekinese, Teleportation von Gegenständen aus der Vergangenheit, Blick in die Zukunft, Röntgenblick, Blockade dieser Fähigkeiten, … all das können fast sämtliche realen und unstofflichen Protagonisten des Romans mehr oder weniger gut. Der Realismus in der Geschichte wird auch dadurch manifestiert, dass all diese Talente von einem tschechischen Institut untersucht werden, um von Regierungsseite auf eine pseudowissenschaftliche Basis gehoben zu werden, indem man solche Fähigkeiten möglicherweise in Zukunft in der Wirtschaft oder in der Spionage einsetzten könnte. Bald wird die Verwirrung zu Beginn des Romans behoben und es kristallisiert sich heraus, wer mit wem wie verwandt und verbunden ist, wer im Jetzt der Geschichte wirklich physisch anwesend ist, wer möglicherweise noch lebt und durch Gedankenübertragung nur virtuell mitmischt und wer eigentlich schon längst als Geist in die Story eingreift. Von den vielen esoterisch begabten Figuren gibt es vor allem drei Männer mit telepathischen und magischen Fähigkeiten: Mirek, Rudy und Kristian. Kristian hat die Telepathie aufgegeben und arbeitet als Spion und Mentalist mit Gedankenpalästen. Jemand hat ihm Erinnerungen aus seinem Hirn gestohlen. Mirek und Rudy sollen durch Hypnose in sein Hirn in den Palast hinein und auf die gespeicherten Informationen aufpassen. Im Anschluss wird die Geschichte spannend wie ein Krimi, denn die Protagonisten bekämpfen sich mit mentalen und magischen Kräften. Der bisherige Kumpel Kristian kristallisiert sich als verschlagener Feind von Rudy und Jirek heraus, Jindrich Butter tritt auf den Plan, der sich aus Büchern ebenso einige Fähigkeiten angeeignet hat, Rudys Exfreundin, die Chinesin Lipo, die aber nur per Telekinese mitmischt, die Geister Hella und Dolphina, die sich lange Zeit rausgehalten haben und Jireks Freundin Mareika, die sowohl von Jindrich als auch von Kristian als Ziel ausgewählt wurde, nehmen auch am esoterischen Kampf teil. Das ganze Setting erinnert total an ein Pokémon Go Spiel. Zuerst werden die handelnden Figuren mit irgendwelchen Fähigkeiten gefüttert, beziehungsweise eignen sie sich diese selbst an, von denen die Leserschaft aber nicht weiß, welche Talente überhaupt in Summe bei jedem vorhanden sind, wie gut sie funktionieren und ob sie zum Guten oder zum Bösen angewandt werden. Am Ende treffen sich alle in der Pokémon Arena zum finalen Kampf. Pilátová weiß ein richtig interessantes Universum zu gestalten, nichts ist in dieser Geschichte nur Schwarz-Weiß, denn es gibt so unendlich viele Schattierungen in Grau bei ihren Charakteren. Was für ein Spiel spielt Rudy gegenüber Mirek? Auch Lipo meint, gute Absichten zu haben, nutzt aber Mirek und Majka aus. Hella will sich nun auch einmischen und der Geist von Dolphina will ihre Urenkelin Majka, der sie so viel schuldig ist, reinlegen. Der Endkampf der magischen und mentalistischen Talente ist eine verzwickte Angelegenheit und unendlich spannend. Auch die Verwischung der Grenzen zwischen Wirklichkeit, Magie und fantastischen Parallelwelten, zwischen Lebenden und Toten zwischen der Vergangenheit und dem 21. Jahrhundert ist der Autorin ausnehmend gut gelungen. Was mir neben der großartigen Sprachfabulierkunst zusätzlich noch extrem gut gefallen hat, ist der Umstand, dass auch rationale, also Mentalisten Fähigkeiten genau beschrieben werden. Die detaillierte Schilderung, wie man sich einen bildlichen Gedankenpalast aufbaut, um sein Gedächtnis zu trainieren, sollte ich auch einmal in meiner Praxis anwenden. Wie Hypnose funktioniert, war auch nicht unspannend. Fazit: Eine richtig gute Geschichte, die in einem Setting spielt, für das ich mich als Wissenschaftlerin eigentlich gar nicht interessiere. Umso mehr zeugt es von der Güte des Romans, dass mich die Story gepackt hat. Der Beginn ist aber ein bisschen zäh und verwirrend, weswegen ich dazu rate, nicht allzu schnell aufzugeben. P.S.: Warum Markéta Pilátová, den Magischen Realismus als Form ihres Romans gewählt hat, ergibt sich aus ihrer Biografie. Sie lebte mehrere Jahre in Brasilien und Argentinien, wo sie Nachkommen tschechischer Einwanderer Unterricht in der Sprache ihrer Vorfahren erteilte.