Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 22.5.2022

Bedauerlicherweise kann ich die Begeisterung für diesen Roman überhaupt nicht nachvollziehen, ich sollte mich prinzipiell hüten, zuzugreifen, wenn ein Werk als sehr poetisch angepriesen wird, denn ich bin offensichtlich zu sehr literarische Realistin, als dass ich mit der Poesie dieser Geschichte etwas anzufangen weiß. Insofern sind im Folgenden bitte auch alle meine Aussagen in der Kritik zu beurteilen. Das gesamte Werk und ich stoßen einander ab wie Wasser und Öl, das heißt aber nicht, dass es schlecht wäre, im Gegenteil, es hat definitiv seine Zielgruppe, die es sicher sehr zu schätzen weiß, aber ich gehöre einfach nicht dazu. Edin arbeitet um die Jahrtausendwende seit einigen Jahren im Hochregallager eines Logistikunternehmens. Der körperlich sehr anstrengende Job hat schon tiefe Wunden in die Gesundheit des jungen Mannes geschlagen. Seine ebenfalls in der Firma beschäftigte Freundin Vanessa hat sich sehr gut positioniert und neben der operativen Tätigkeit auch Schulungen zur Weiterbildung belegt. Als die Digitalisierung voll zuschlägt und ein Großteil der Mittarbeiter im Lager durch Roboter ersetzt werden, ist sie schon ins mittlere Management aufgestiegen und Edin wird arbeitslos. Mit der fehlenden Aufgabe, den nicht vorhandenen Perspektiven, seinem angeknacksten Selbstwertgefühl, nichts mehr zur Existenz des Paares beitragen zu können und mit dem zermürbenden Bewerbungsprozess kann Edin nicht umgehen, er stürzt vollends in die Orientierungslosigkeit. Bald ist die virtuelle Welt seines geliebten Ego-Shooter Spiels seine einzige Zuflucht. Der beengte Raum in der Einzimmerwohnung des Paares und die dadurch kriselnde Beziehung geben Edin irgendwann den Rest. Er muss etwas unternehmen… . Ich fand die bereits angesprochenen Poetik eben als zwanghaft auf intellektuell und innovativ gebürstet, die ungewöhnliche Erzählperspektive ist das DU – entgegen dem typischen ICH-Erzähler – was mir jetzt auch keine tieferen Einblicke oder mehr Nähe zur Figur verschaffte. Das ungewöhnliche Stilmittel hat mich zwar nicht extrem gestört, aber genutzt hat es eben auch nicht, denn es unterstützt meiner Meinung nach die Geschichte nicht wirklich. Es gibt ein paar gute Ansätze vor allem in der Sprache, der Figurenentwicklung des Protagonisten und der Botschaft der Kapitalismuskritik. Auch die Bedeutung des Faktors Arbeit, beziehungsweise Arbeitslosigkeit in Zeiten der Digitalisierung wird durchaus ambitioniert angesprochen, aber mir war das ganze viel zu verkopft präsentiert. Am schlimmsten war für mich aber das Extra-Feature, das ich für mich gemäß Computersprache eher als Bug bezeichnen würde. Über QR-Codes kann die Leserschaft die Vertonung des Stoffes als Soundtrack zusätzlich zum Lesen rezipieren. Ich find so innovative Konzepte, einen Roman über QR-Code mit Sound zu verknüpfen, prinzipiell sehr genial. Wenn ich mir aber die Mühe mache, den Code zu scannen und dann kommt Kakophonie in Kombination mit akustischer Folter zum Beispiel in Form eines Lehrers, der mit den Fingernägeln über die Tafel wetzt, Tinnitus-Pfeifen und Metallgekratze, dann bin ich richtig sauer – Musikkunst muss wirklich nicht atonal und schrecklich ohrenzerfetzend sein, den Tinnitus habe ich schon selbst. Diese als Noise-Art bezeichnete Kunstform ist für mich nicht nur unangenehm, sondern total schrecklich, passt aber selbstverständlich wie die Faus aufs Auge in das Konzept des Romans, ist also tatsächlich schlüssig umgesetzt. Da ich nach ungefähr 30 Sekunden unbedingt abdrehen musste, um meine Gehörgänge zu schützen, kann ich nicht beurteilen, wie der Soundtrack in Kombination mit dem Lesen zur Geltung kommt, habe aber schon gehört, dass er einige während der Lektüre gestört hat. Fazit: Definitiv ein Buch für jemand anderen.

zurück nach oben