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awogfli

Posted on 1.5.2022

Anne Tyler liefert eine gute Familiengeschichte ab. Sie beherrscht die Fabulierkunst ausgezeichnet, ihre Figuren sind tief und liebevoll entwickelt, aber in Punkto Plotgestaltung und Dramaturgie ist noch einiges an Luft nach oben in diesem Roman. Die ausladende Familienstory ist mit extrem viel Personal bevölkert, was aber nicht unbedingt durch den Schreibstil der Autorin begründet ist, möglichst viele Nebenfiguren in die Handlung aufzunehmen, sondern die Familie ist tatsächlich so groß. Mutter Abby, pensionierte Sozialarbeiterin, nimmt gerne Streuner auf, manche adoptiert sie, diese heiraten, zeugen Kinder und leibliche Kinder, sowie angenommene ziehen nun sogar mitsamt der Mischpoche ins Haus. Der Rest der Familie und auch noch viele Bekannte, die letztendlich für die Story relevant sind, tummeln sich zu den Mahlzeiten am Esstisch. Im ersten Teil des Romans spielt sich folglich unglaublich viel verwirrendes Gewusel in der Handlung ab, dies gilt aber nicht nur für die Leser, sondern auch das Haus von Abby und Red platzt aus allen Nähten. Konflikte in der Familie sind vorprogrammiert und deren gibt es auch zuhauf. Durch liebevolle Figurenentwicklung bekommt man aber recht bald einen Überblick wie der Hase läuft. Das ist fast so wie die Feier einer Großfamilie, bei der man am Anfang noch verwirrt ist, weil einem so viele Großcousins und Cousinen vorgestellt werden, man dann aber irgendwann die Kurve kriegt, wer mit wem verwandt beziehungsweise verbandelt ist und was abgeht, bis man am Ende, sofern man nüchtern bleibt, den Stammbaum komplett zusammengesetzt hat. Bis Seite 279, als die Handlung in der Gegenwart stattfindet, ist die Familiengeschichte grandios. Dann wurde ich völlig abrupt und unvermutet mit Teil zwei, einer Handlung in der Vergangenheit und der Story, wie Abby und Red sich kennengelernt haben, konfrontiert. Im Prinzip bin ich wieder ins kalte Wasser zurückgeworfen worden, denn nun habe ich quasi erneut einen anderen Roman begonnen, und musste das Spiel mit dem Figurengewusel wieder von vorne beginnen. Das ein enormer und völlig unnötiger Bruch im Lesefluss, denn bis auf drei Personen findet auch ein völliger Austausch des ohnehin schon viel zu inflationären Personals statt. Das wäre nun kein Problem, ich bin ja Herausforderungen gewohnt, aber die Handlung kommt einfach nicht mehr in Schwung, das dauert zu lang. Als dann im dritten Teil das Setting wieder in der Gegenwart spielt, verbessert sich die Situation wieder und einiges wird aufgelöst, es bleiben für mich aber trotzdem Lücken im Plot, sodass ich mich frage, warum dieser eingeschobene Teil überhaupt stattfinden musste, die wichtigen Ereignisse hätten auch in Rückblenden und Erzählungen in die chronologische Geschichte eingebaut werden können. Das ist wirklich keine gute Dramaturgie. Leider lösen sich einige Fragen auch in der Endabrechnung nie auf, was mich immer besonders stört. Wie kam es eigentlich zum „Unfall“-Tod von Abbys ersten Freund? Warum wird die Geschichte wie Abby und Red zusammenkamen überhaupt erzählt, wenn der Umstand, wie sie tatsächlich ein Paar wurden, ausgespart blieb. Zack Bumm, Freund Dan ist weg, wahrscheinlich beim Holzmachen in Reds Garten verunglückt, könnte aber ebenso von seinem besten Freund Red um die Ecke gebracht worden sein, der schon ein Auge auf Abby geworfen hat. Auch die Frage, wie Abby tatsächlich gestorben ist, wird nie ganz schlüssig aufgeklärt. Der Hund ist ihr davongelaufen, die Autofahrerin entschuldigt sich nur dafür, den Hund überfahren zu haben, beide, also Abby und der Hund liegen aber weitverstreut und tot in der Gegend herum, die Autofahrerin hat den Wagen dann auch noch um die entfernte Laterne gewickelt, wobei sich alle auch versichern, dass Abby den Hund nicht mehr sterben sehen musste, sie kann also auch nicht am Schock gestorben sein. Irgendwie ist dieser Autounfall wie JFK’s magische einzelne Kugel, die um die Kurve geflogen ist und 3 völlig voneinander entfernte Schusslöcher hinterlassen hat. Gerade bei solchen Unfällen gibt es ja eine genaue Untersuchung und es gab sogar Zeugen, aber auch die äußern sich so vage. Dieses zwanghafte Verschleiern eines profanen Unfalls finde ich jetzt auch völlig unnötig. Sollte das irgendwie eine geheimnisvolle Note in den Roman bringen? Mission failed Fazit: In der Endabrechnung eine gute Geschichte, die im Gegensatz zum Titel „Der leuchtend blaue Faden“ durch Murks im Handlungsaufbau in der Mitte des Romans letztendlich leider ein bisschen den roten Faden verloren hat. P.S.: Ach ja, Gratulation an den Verlag, das Lesebändchen der Hardcoverausgabe tatsächlich in leuchtendem Blitzblau zu gestalten, halte ich für eine sehr geniale Idee

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