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awogfli

Posted on 12.4.2022

Ahh, das habe ich jetzt gebraucht, sagte Roger Rabbit erleichtert in seinem Zeichentrickfilm, und genau so ein Gefühl hatte ich beim Lesen dieses Romans. Es ist ein richtiges Wohlfühlbuch, das mich nach all den politischen Katastrophenmeldungen der letzten Wochen und den Nachwirkungen meiner Coronaerkrankung mit seinem Humor und grenzenlosem Optimismus wieder aufgerichtet hat. In der Geschichte geht es ums Sterben und um die Familie, nämlich nicht unbedingt um jene, in die man hineingeboren wurde, sondern um die, die man sich selbstgewählt zusammenstellt. Ihr werdet Euch nun natürlich wundern: Sterben, Humor und Optimismus? Wie soll das zusammenpassen und funktionieren? Glaubt mir, das fügt sich perfekt ins lebensbejahende Bild, das der Roman vermittelt, vor allem, wenn einer der Protagonisten angesichts seines nahenden Todes, nach 15 Jahren endlich sein Leben in die Hand nimmt und wieder genießt. Aber lasst mich nicht vorgreifen, ich möchte den Fokus gleich auf den Anfang legen, der diese leichte, witzige, aber nicht seichte Art zu erzählen, sehr gut repräsentiert. Der Prolog ist ein Knaller, wundervoll, ein Rundumschlag gegen die inflationären Sexszenen in Film und Literatur, die zu wenig ausgebreiteten Toilettengänge, die weitaus häufiger als der Koitus im Leben vorkommen, aber in der Fiktion oft völlig fehlen, ein Hieb mit feiner Klinge gegen Karl Ove Knausgard, der in seiner narzisstischen Selbstbetrachtung alles dokumentiert und eine Hassliebe, beziehungsweise ein Einverständnis mit Peter Handke, in diesem Roman die peinlichen Sexszenen zu unterlassen, weil sie peinlich für das Publikum sind – großartige Eröffnung! Dann wird eine wundervolle, humorvolle, sehr ausladende Familiengeschichte erzählt, jede der Figuren ist ausnehmend liebevoll mit all ihren Stärken und Schwächen sehr tief beschrieben. So etwas begeistert mich immer sehr. Die Protagonistin Charly Benz hat Postangst, eine extreme Form des Prokrastinierens. Deshalb hat sie Herrn Schabrowski engagiert, der die Dienstleistung auch einigen anderen Leidensgenossen von Charly anbietet, dieses Geschäft also professionell betreibt, nämlich alle Briefe in einer wöchentlichen gemeinsamen Sitzung für seine Klienten aufzumachen und zu organisieren, wenn diese irgendwelche Aktionen nach sich ziehen: wie Rechnungen bezahlen, Behördengänge … . Schwester Sibylle hat Charly zum Geburtstag eine Familienaufstellung geschenkt, was Einiges ins Rollen bringt. Herr Schabrowski und Charly haben vereinbart, dass wenn sie in die Puschen kommt und sich zur Familienaufstellung aufrafft, er sein eigenes prokrastiniertes Problem angeht, denn er hat irgendeinen dumpfen, bedrohlichen, körperlichen Schmerz, den er beharrlich verdrängt. Während der Untersuchungen und der ewigen Wartezeiten in Krankenhausfluren und Vorzimmern steht Charly Herrn Schabrowski bei und erzählt ihm ihre Lebensgeschichte. Charly hat ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Vater, der die Familie schon zwei Mal Knall auf Fall verlassen hat, die Mutter ist tot, der Rest der Mischpoche ist über die ganze Welt verstreut. Lediglich Sibylle lebt mit ihr in Berlin, respektive ist sie sogar kürzlich mit Sack und Pack bei Charly eingezogen, weil sie sich wegen ihres Liebhabers von ihrem Mann getrennt hat. Charly hat sich all die Jahre nicht weiterentwickelt, sie ist beruflich irgendwie steckengeblieben, im Marketing gelandet, lebt allein und zurückgezogen, hat keine Freunde, keine Beziehungen, keine Liebschaften, hat den Männern mittlerweile völlig abgeschworen, also summa summarum überhaupt kein Leben. Meinen Weg säumten die, deren Brillen so dick wie Colaflaschenböden waren, die sowieso nur alles verschwommen sahen, also auch mich. Meine Pfade wurden gekreuzt von bleichen und schnarchnasigen Schachnerds, die nie irgendwas unternehmen wollten, denn „wir könnten doch Schach spielen“. Mich begleiteten verfilzte Aussteiger in übergroßen Strickpullovern, dir nur mit einem Leiterwägelchen voller Habseligkeiten die Welt umrundeten und die „überhaupt keinen Wert auf längere Bindung und auch nicht auf Äußerlichkeiten“ legten. Sie badeten in meiner Badewanne, rasierten sich mit meinem Ladyshaver und aßen meine Kekse, am nächsten Tag waren sie wieder weg, die Welt war groß. Das ändert sich aber schlagartig, denn nach der Familienaufstellung beginnt sie mit unterschiedlichen Menschen Freundschaftsbande zu knüpfen. Sie startet ganz intensiv mit Herrn Schabrowski. Auf Seite 300 gibt es einen sensationellen Knalleffekt, da die Autorin im Prolog angekündigt hat, der Leserschaft die beschämenden Sexszenen zu ersparen, weil sie mit Handke diesbezüglich einer Meinung ist. Charly Benz ist total überrascht, schwanger und weiß nicht von wem. Ich als Leserin war noch mehr von den Socken, denn nichts deutete bei den sehr nett geschilderten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht darauf hin, dass sie nach jahrelanger sexueller Abstinenz nun gleichzeitig mit drei Männern geschlafen hat. Chapeau, das hat Verena Rossbacher konsequent durchgezogen, der Leserschaft diese Szenen zu unterschlagen. Nun gibt es als Nachtrag das Kapitel mit allen Sexszenen, das man aber auch überspringen kann. Wundervolles Spiel mit dem Plot, finde ich. Bald stellt sich durch die Untersuchungen heraus, dass Herr Schabrowski sterben muss, er ist unheilbar an Krebs erkrankt, hat bereits Metastasen und die Ärzte geben ihm nur noch zwei Monate. Völlig schockiert und depressiv will er sich in sein Schicksal fügen, doch die zum Leben erwachte Charly lässt das nicht zu. Sie startet ein Gesundheits-, Esoterik- und Beschäftigungsprogramm für ihn, was aber beiden gleichermaßen hilft. Hier kommt diese herzerwärmende Komponente zum Tragen, die eine Wohlfühlgeschichte kreiert, obwohl es auch ums Sterben geht. Da Herr Schabrowski vorher nicht gelebt hat, weil er Schuldgefühle hatte, einsam war und erst angesichts seines nahenden Todes anfängt zu leben, als er von Charly Benz unter die Fittiche genommen wird, ist die Geschichte wahnsinnig optimistisch und aufbauend. Zwei bislang völlig dysfunktionale Menschen ergeben ein Dreamteam und schlagen dem Tod durch unbändige Lebenslust fast ein dreiviertel Jahr ein Schnippchen. Die beiden sind gemeinsam sogar so erfolgreich, dass sie als Klebstoff für eine neue Wahlfamilie fungieren. Die potenziellen Väter, Charlys wiedervereinte Kernfamilie und der Anhang von allen formen eine neue Mischpoche, die wie Pech und Schwefel zusammenpasst, sich bei allen Problemen und Verwerfungen trotzdem gegenseitig unterstützt, schätzt und irgendwie sogar liebt. Zudem wird auch noch das Geheimnis der Vergangenheit von Charlys abwesenden und mittlerweile verstorbenen Vater gelüftet. Die Geschichte hat alles: Gute Sprache, manchmal ausufernde, aber großartige Erzähllust, sehr viel Wortwitz, humorvolle Szenen, Tragik und Komik gleichzeitig, tief und liebevoll entwickelte Figuren, einen wundervollen Plot und eine Botschaft. In ein paar Kritiken habe ich gelesen, dass der Humor zu angestrengt und zu gespreizt wirkt. Manche haben den Roman sogar als zu seicht empfunden. Obwohl Witz bekanntlich sehr individuell ist, muss ich so eine Kritik in dem Fall zurückweisen. Locker, flockig und leicht, aber keinesfalls seicht kommt die Story daher. Nicht immer braucht man für Tiefgang ausschließlich Drama und Leid, ein bisschen Augenzwinkern und Komödie darf auch beim Sterben mit dabei sein. Da bin ich ganz Österreicherin, die ja alle bekanntlich ein sehr spezielles, eher witziges Verhältnis zum Tod haben. Wer Vea Kaisers Humor in Rückwärtswalzer zu schätzen wusste, wird auch den Stil von Verena Rossbacher lieben. Fazit: Ich bin entzückt, gerührt und begeistert, absolute Leseempfehlung. Die perfekte Auszeit und emotionale optimistische Aufbaukur, um sich vom derzeitigen Weltgeschehen zu erholen, und trotzdem gleichzeitig anspruchsvolle Literatur zu genießen.

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