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awogfli

Posted on 2.4.2022

Puh, das war wirklich ein höchst innovativer Roman, der alles andere als einfach zu lesen war und zwischendurch auch mitunter in die Kategorie mühsam fiel. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, viel zu weit aus meiner Komfortzone hinausgeschwommen zu sein und den Grund verloren zu haben. Diese Anstrengung war sicher auch meiner Coronainfektion während der Lektüre geschuldet, erklärt aber schlüssig nicht alle Irritationen, die ich gefühlt habe. Man muss schon sagen, die Geschichte ist wirklich schwierig zu lesen und ich verstehe jeden, der mit einem Abbruch liebäugelt. Am Ende war ich aber ordentlich begeistert und freue mich, dass ich all die Mühen auf mich genommen habe. Mit dem sensationellen Titel beginnt der Einstieg in dieses ungewöhnliche Werk. Aibohphobia – auf Deutsch Eibohphobie – ist die Angst vor Palindromen, wobei der Begriff selbst ja tatsächlich auch ein Palindrom ist. Was für eine Ironie, denn Kranke können die Krankheit gar nicht beim Arzt benennen. Zuerst dachte ich, das Wort sei ein ziemlich genial erfundenes fiktives Gedankenkonstrukt, aber die Krankheit gibt es und sie heißt auch so. Stellt Euch folgenden Dialog vor, das ist wirklich nicht recht klug, in der medizinischen Diagnose und Therapie die Angst vor Palindromen mit einem Palindrom zu benennen: Herr Doktor, ich habe – … – Panikattacke folgt 😱😂. Dann wird der Leserschaft ein recht einseitiger Briefwechsel eines Nervenarztes mit seinem Patienten präsentiert, in dem man nur die Briefe des Doktors lesen kann und sich die Antwortschreiben auf Grund der Entgegnungen vorstellen muss. Ich mag ja abgehoben, schräg, bekloppt und wahnwitzig in der Fiktion sehr gerne, aber dieser Briefmonolog ist wirklich Irrsinn im pathologischen Sinn. Anscheinend sind beide – Arzt und Patient – komplett reif für die Heilanstalt. Da wird als Therapiemaßnahme über die Entfernung der Amygdala, Elektroschocktherapie, massiver Missbrauch und Überdosierung von mehreren Psychopharmaka gemischt aus unterschiedlichen Kategorien schwadroniert, Selbstmordgedanken seitens des Patienten werden angesprochen und eine gehörige Portion von Größenwahn seitens des Arztes blitzt auch in der Konversation auf. Es war für mich recht mühsam, sich in diese irre Gedankenwelt hineinzuversetzen, die ausschließlich monodirektional im Briefverkehr zwischen Arzt und Patient dargelegt wird. Das Setting ist aber alles andere als unspannend, denn ab in etwa der Hälfte des Romans tauschen Arzt und Patient allmählich, Schritt für Schritt völlig die Identitäten, nicht nur in der Funktion, sondern auch vom Namen und der Biografie her. Die Grenzen zwischen Arzt und Patient, Realität und Wahnsinn, Krankheit und Therapie werden total aufgelöst. Ab diesem Absatz muss ich nun ordentlich spoilern, sonst kann ich die Güte des Werkes und das, was mir daran total gefallen hat, nicht beschreiben. In dem Fall kann man dieser verpönten Unsitte wahrscheinlich sogar eine positive Komponente abgewinnen, denn hätte ich gewusst, was mich erwartet, hätte ich nie mit einem Leseabbruch geliebäugelt, und ich glaube, einigen Lesern wird es genauso gehen. Wer sowieso durchhalten möchte und sich überraschen lassen will, der möge nun folgenden Absatz überspringen. Plottechnisch und konzeptionell bekommt die Geschichte noch einen weiteren grandiosen Innovationsschub, denn zudem wird zusätzlich zum Identitätstausch zwischen Arzt und Patient auch noch eine Zeitschleife eingeführt, als die Rollen und die Personen gewechselt werden. Man ist wieder am Anfang der Handlung mit vertauschten Rollen angekommen, wodurch das Drama der psychischen Krankheit als ein ewigwährendes Perpetuum Mobile gesehen werden kann. Theoretisch könnte man beim Lesen der letzten Seite nahtlos wieder von vorne beginnen oder die Kapitel rückwärts lesen. Zudem gleicht diese dramaturgische Konzeption auch die Schwächen des Beginns aus, denn der Briefverkehr kann nun aus der anderen Sicht gelesen werden, alle Annahmen, die man vorher auf Grund des einseitigen Dialogs antizipieren musste, sind nun ausformuliert in den Schriftstücken. Nun wird auch die Wahl des Romantitels klar, denn der Plot könnte vorwärts und rückwärts gleich einem Palindrom rezipiert werden. Klingt das wirr und bekloppt? Ist es auch, aber in seinem Wahnwitz so derart logisch und konsistent durchgezogen, dass ich vor dem Autor ob der Kunstfertigkeit seines Handlungsaufbaus nur den Hut ziehen kann. Hier war nun der Punkt erreicht, der mich richtig begeisterte und alle Anstrengungen beim Lesen rechtfertigte. Fazit: Ein ungewöhnlicher und schwieriger Roman, schräg und abgedreht für Leute, die sich auch gerne mal aus ihrer Komfortzone herauswagen möchten. Ich fand ihn in der Endabrechnung innovativ und großartig und gebe eine Leseempfehlung ab.

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