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evaczyk

Posted on 24.3.2022

Wo endet Freundschaft und wo beginnt Nibelungentreue? Kann nicht sein, was nicht sein darf? Diese Fragen kommen beim Lesen von Christoph Poschenrieders Roman "Ein Leben lang" auf, der von einem wahren Fall inspiriert wurde. Eine Clique von Freunden wird auf die Probe gestellt, als einer von ihnen als Mörder seines Erbonkels verhaftet wird. Im folgenden Prozess stehen sie geradezu demonstrativ zu ihm, organisieren Pressekonferenzen, um seine Unschuld zu beteuern. Verurteilt wird er trotzdem: Lebenslang, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das heißt: Entlassung nach 15 Jahren ist nicht möglich. Eine Journalistin wendet sich 15 Jahre später noch einmal an den Freudeskreis, plant ein Buch, das die Linien von damals bis heute ziehen soll. In dem Buch tritt sie nur durch Randnotizen auf, statt dessen sind es die Monologe und Erinnerungen der Gesprächspartner, die erhellend bis entlarvend sind und Fragen aufwerfen: Wo wäre die Freundschaft heute, hätte es nicht den Mordfall und den gemeinsamen Kampf gegeben? Hätten sie sich nicht längst auseinandergelebt wie so viele, die sich im Sandkasten kennenlernten, auf dem Spielplatz Blutsbrüderschaft schlossen und in der Pubertät gemeinsam den Eltern trotztzen? Und die dann eben doch alle getrennt ihre Pfade im Erwachsenenleben einschlugen? Wie wahr war die Freundschaft jemals und wie sehr werden im nostalgischen Rückblick Machtspiele und Hierarchien geschönt? Das sind Fragen, die sich mancher der Interviewten in Phasen der Reflektion durchaus selbst stellt: "Wir hätten uns früher fragen müssen, ob wir zu ihm halten, weil er es nicht getan hat oder obwohl er es getan hat. Was ist einfacher? Kann man der Freund eines Mörders bleiben, oder darf einer einfach kein Mörder sein, damit wir Freunde bleiben können?" Wo die Wahrheit liegt, das wird auch am Ende offen bleiben, denn jeder und jede der Beteiligten hat eine eigene Wahrheit. Es ist kein Netz, das hier geknüpft wird, sondern die Teile des Puzzles liegen auf dem Tisch. Zusammenfügen muss sie die Leserin selber. Dabei wird der Blick des jeweiligen Erzählers stets auch der (Zerr-?)Spiegel des Blicks auf die anderen, auf dieses Geflecht von Freundschaft und Beziehungen, die umso fraglicher scheinen, je lauter sie betont werden. "Ein Leben lang" ist alles andere als ein Whodunit oder gar ein Justizthriller, vielmehr ein Psychogramm der Freundesgruppe ganz überwiegend aus deren eigener Sicht. Das wirkt mitunter ein bißchen sehr zerpflückt. Die behütete Welt der Vorstadtkinder in der Eigenheimsiedlung ist denn auch nicht ganz so fesselnd, die Rebellion nicht überzeugend, da sie selbst doch ebenfalls das Establishment verkörpern. Insofern finde ich den Inhalt dieses Buches zwar interessant, bin aber nicht hundertrprozentig überzeugt vom Gesamtprodukt.

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