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awogfli

Posted on 27.2.2022

Wieder ein wichtiges Stück Weltkriegsliteratur aus Österreich, von dem einfach noch immer nicht alle Geschichten erzählt sind, weil gerade jetzt in der Phase, in der die Zeitzeugen alt geworden sind, neue Aspekte ins Spiel kommen. Auch der Roman von Zdenka Becker bietet so ein innovatives Setting, welches das betagte Ehepaar Hilde und Karl zeigt, das als junges Liebespaar den Weltkrieg mitmachte und sich ausgerechnet heutzutage am beschaulichen Lebensabend wieder erinnert, beziehungsweise einer der Partner, Hilde, muss sich fast zwangsläufig erinnern, weil sie vor dem Umzug ins Altersheim noch mit einigen Baustellen in ihrem Leben aufräumen möchte. Bei Karl funktionieren nämlich die all die Jahre erfolgreich aufgebauten Verdrängungsmechanismen nicht mehr. Er kann sich aber kaum mehr artikulieren, hat schwere Demenz und wacht fast jede Nacht schreiend und irgendetwas Vergangenes aufarbeitend auf. Da Hilde und Karl nie – auch nicht nach dem Krieg – über diese Zeit geredet haben, als sie voneinander getrennt waren und Karl in einem Untertage-Flugzeugmotorenproduktionslager im KZ Neckarelz-Mosbach als Ingenieur gearbeitet hat, versucht Hilde über den Briefverkehr zwischen den beiden in der damaligen Zeit, Zugang und Informationen zu Karls Problemen zu erhalten. Dazu durchstöbert Hilde eine tief auf dem Dachboden vergrabene Kiste mit Liebesbriefen und erinnert sich … . In zwei Zeitsträngen wird nun über die postalischen Relikte die Beziehung zwischen beiden aufgerollt: vom ersten Kennenlernen bis zur räumlichen Trennung, als der arbeitslose Karl 1938 nur in Berlin in einem Flugzeugmotorenwerk einen adäquaten Job gefunden hat und Hilde ihn nicht begleiten konnte, weil sie ihrer Schwester auf dem niederösterreichischen Hof helfen musste, über die anschließende sehr kurze gemeinsame Zeit, bis zur erneuten jahrelangen Trennung durch den Krieg. Der Briefverkehr zwischen Hilde und Karl in der Vergangenheit ist wichtig, nahm aber meiner Meinung nach am Anfang des Romans viel zu viel Raum ein. Nicht jede einzelne Banalität und Intimität, die das Liebespaar teilt, hätte so breit ausgewalzt werden müssen. Zu Beginn lechzte ich permanent nach den Kapiteln in der Gegenwart, in der die alte Hilde die Briefe einordnet, sich erinnert und reflektiert. Was zu Beginn ein kleines Manko war, weil die Geschichte erst so gemächlich in Gang kommt, entpuppt sich aber in der weiteren Entwicklung des Plots plötzlich als fundamentale Stärke, da die Leserschaft, als die ersten gravierenden Probleme beim jungen Glück auftauchen, diese so unmittelbar, persönlich und ungefiltert mitbekommt, dass hier sehr viel Nähe zu den Figuren entsteht, was ein auktorialer oder neutraler Erzähler nur schwer zustande gebracht hätte. Puh, da passiert extrem viel zwischen Hilde, Karl und ihren Familien, was sich nach und nach aus den Briefen herauskristallisiert, wie zum Beispiel eine viel zu lange Verlobungszeit der Liebenden. Erstmals sieht man auch, wie Besitz eine Bürde sein kann, wenn man als junge Frau und Waise mit unehelichem Kind das elterliche Anwesen nur mit Mühe betreiben kann. Deshalb muss Hilde ihrer Schwester Elfi und ihrer Tochter Lina auch helfen und kann nicht heiraten. Endlich, nach zwei Jahren kann der Umzug zu Karl nach Berlin und die Heirat stattfinden, was mit Fremdeln, ständigem Heimweh und einem vorübergehenden Bruch mit der beleidigten Schwester einhergeht. Die gemeinsame Zeit zwischen den Ehegatten dauert aber nicht lange, denn Elfi mit dem ledigen Kind an der Backe kann den Hof noch immer nicht alleine halten, ein Verkauf ist auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse, die durch den Krieg entstanden sind, nicht lohnend. So muss die jungverheiratete Hilde ihren Ehemann wieder verlassen und zurück nach Niederösterreich auf den Hof, um zu helfen. Nach und nach kommt das Drama in Gang, Karls Motorenproduktion wird an einen geheimen Ort irgendwo Untertage in Deutschland verlegt, Schwester Elfi stirbt bei einem Unfall und Hilde ist nun mit ihrer Nichte Lina alleine. Beide Ehepartner schreiben nicht mehr all ihre dramatischen Sorgen in der Korrespondenz auf. Das ist teilweise der Zensur, aber auch dem Selbstschutz geschuldet, mittlerweile muss man in den Briefen zwischen den Zeilen lesen. Zudem taucht in der Gegenwart der entfernte alte Bekannte Willi auf, der Hilde permanent belästigt und sich als Dorfchronist der Vergangenheit aufspielt. Auch Hilde hat nämlich etwas zu vergessen, zu verheimlichen und zu verdrängen: Etwas, das damals passiert ist und das sie Niemandem erzählt hat. Nun ist sie durch Willis bohrende Fragen und auch aus eigenem Antrieb gedrängt, reinen Tisch zu machen und alle Geheimnisse der Vergangenheit aufzudecken. Sie vertraut sich Willis Enkelin Milli und Karls Pfleger Markus an, welche ihr bei zusätzlicher Recherche helfen und das Puzzle zusammensetzen. Stilistisch großartig konzipiert ist das gesamte Setting des Plots. Aus Briefen, kurzen Schnipseln von Erzählungen aus den Kriegsjahren und Erinnerungen der Gegenwart, wird eine Collage zusammengezimmert, die tatsächlich letztendlich ein konsistentes, komplettes Bild der Familiengeschichte widerspiegelt. Die Zeitsprünge, die Briefe und die unterschiedlichen Sichtweisen haben den Roman sehr wenig dekonstruiert, im Gegenteil, sie liefern der Leserschaft eher einen authentischen sehr persönlichen Zugang zum historischen Ganzen. Am Ende steht einfach eine einheitliche Auflösung die mit mehreren Komponenten erreicht wurde. Und jetzt kommt noch der Hammer! Die Konversation zwischen Hilde und Karl wurde von der Autorin nicht erfunden, sondern Zdenka Becker komponierte diesen Roman aus über 500 Briefen und Postkarten, die sie am Dachboden ihres Hauses gefunden hat. Damit ist der postalische Teil des Plots ein zeitgeschichtliches Dokument aus der Zeit der Kriegswirren. Der fiktionale Rest, der aus dem Werk ein konsistentes Ganzes gemacht hat, könnte vielleicht so, aber auch anders passiert sein. So funktioniert die Kreation eines guten Briefromans! Fazit: Sprachlich, inhaltlich und plotmäßig sehr gut. Leseempfehlung!

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