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awogfli

Posted on 18.2.2022

Ein großartiger Wurf! Eine meiner osteuropäischen Lieblingsschriftstellerinnen, Sofi Oksanen, hat wieder einmal einen aufrüttelnden, mitreißenden, anspruchsvollen, starken Roman auf dem Buchmarkt platziert. Wie schon in ihren vergangenen Werken geht es um Frauenschicksale in der Ukraine, mit dem Fokus auf die Geschehnisse seit dem Zerfall des Ostblocks. Diese Geschichte beschäftigt sich mit einem weiteren, zumindest in der EU illegalen Geschäftszweig, wie junge Frauen aus der Spirale von Armut, Unterdrückung und Perspektivenlosigkeit ausbrechen und zu Geld kommen können: Sie bieten zahlungskräftigen unfruchtbaren Europäerinnen ihre Eizellen zum Verkauf an. Durch die sehr liberale Gesetzgebung in der Ukraine ist dies zusammen mit Leihmutterschaft erlaubt, deshalb in ganz Europa sehr gefragt und zudem eine äußerst lukrative Einnahmequelle für junge Frauen und die politisch sehr gut integrierten Vermittlungsnetzwerke. Im typischen „Oksanen-Stil“ sind wieder zwei Handlungsstränge installiert, einer in der Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in der Ukraine und einer in der Gegenwart diesmal in Finnland, die sich allmählich einander annähern. Wie immer werden nach und nach die Geheimnisse der Vergangenheit enthüllt. Protagonistin Olenka trifft zufällig im finnischen Hundepark auf die Eizellenspenderin Daria, die eine der Empfängerfamilien mit ihren zwei Kindern und den Hund stalkt. Olenka hat seit ihrer Jugend einiges mitgemacht, um der Arbeits- und Hoffnungslosigkeit in der Ukraine zu entkommen. Sie wurde in früher Jugend als Model entdeckt, hat sich aber aus Unwissenheit im Business leider einen Fehler geleistet, indem sie den falschen Werbejob angenommen und damit ihre Karriere zerstört hat. Nach vielen Versuchen, erneut Arbeit zu bekommen und ihre Mutter und Tante zu versorgen, ist sie zuerst als Eizellenspenderin bei einer all-inklusive-Vermittlungsagentur (Babies, Leihmütter, Eizellen, Kliniken, Waisenhäuser…) gelandet und dann dort zur erfolgreichen Koordinatorin aufgestiegen, die zum Beispiel auch für Daria verantwortlich war. Leider ging bei der Betreuung von Daria und der prominenten Eizellenempfängerin Lada Krawetz etwas schief, Olenka musste fliehen und anonym unter falschem Namen irgendwo untertauchen. Nun arbeitet sie in Finnland als Putzfrau, hat jeden Kontakt zu ihrer Mutter aus Angst um ihr Leben abgebrochen und beobachtet natürlich genauso wie Daria die Familie im Hundepark, denn das ältere Kind stammt aus ihrer Eizelle. Da Daria psychisch labil und total unberechenbar ist, hat Olenka Angst, dass sie ihren Aufenthaltsort aufdeckt, oder etwas so Dummes wie eine Kindesentführung plant, was die öffentliche Aufmerksamkeit automatisch auf beide Frauen lenken und die Anonymität der Protagonistin zerstören würde. In Rückblenden wird der Aufstieg und Fall Olenkas, das gesamte Leben ihrer Familie, aber auch das Schicksal von Daria und ihren Verwandten aufgerollt, die in ferner Vergangenheit in einem kleinen ostukrainischen Dorf Nachbarn waren. Neben den persönlichen Komponenten baut der Roman auch die unsichere politische Situation von 2016 während der russisch-ukrainischen Krise ein, indem sich die in Finnland untergetauchte Olenka sehr viele Sorgen um ihre Mutter macht. Das ist ganz schön gruselig, ausgerechnet in der heutigen Zeit davon zu lesen, denn vieles ist ähnlich, fast schon analog zur vergangenen Krise. Die Protagonistin schaut in Finnland das über Satelliten empfangene Wetter russischer Nachrichtensender, um bei aller Desinformation zu eruieren, ob die Ukraine und nicht nur die Krim auf der Wetterkarte schon an Russland angeschlossen sind. In Europa braucht sie sich im Gegensatz zur Ukraine nicht um die Gaspreise zu kümmern, denn es ist genügend da – das Problem haben wir momentan in Österreich aber tatsächlich. „Falls jemand im Gefängnis sitzt, dann solltest du das jetzt sagen.“ „Gefängnis ist doch nicht erblich.“ „Aber Aggressivität ist es. Und es empfiehlt sich nicht, den Kunden diesen Witz zu erzählen.“ Ich wusste, was sie meinte. Bei uns sind die ehrlichen Menschen im Gefängnis, und die unehrlichen im Parlament. Literarisch und sprachlich möchte ich den Roman als sehr anspruchsvoll einordnen. Der Stoff ist brutal, abgebrüht und realistisch, die Handlung verzwickt, herausfordernd, aber nicht verwirrend, da die losen Enden zum Schluss zusammengeführt werden. Letztendlich verweben sich die aufgedeckten Handlungsstränge aller Figuren sogar enger, als ich mir das ursprünglich vorstellen konnte. Man könnte fast meinen, die ganze Ostukraine ist ein einziges winziges Dorf, in dem jeder mit jedem aus der Vergangenheit in enger Beziehung steht, obwohl sich gar nicht alle kennen, weil sehr viele ihre Biografie verändert und die Namen gewechselt haben. Zusätzlich gibt es ganz im osteuropäischen Stil auch noch eine tragische, recht unkitschige, sehr verzweifelte Liebesgeschichte. Die Figurenentwicklung der Protagonistin Olenka und der Frauen ihrer Familie ist sensationell, die Männer wie Vater, Geliebter, Helfer bei der Heroinproduktion, Dealer … bleiben meist Beiwerk, absichtlich blass konzipiert und mitgemeint. Ich liebe diese brutal realistischen osteuropäischen weiblichen Figuren von Sofi Oksanen. Sie sind teilweise Heldinnen und Antiheldinnen zugleich, ein bisschen Opfer, aber auch extrem schnell skrupellose Täterinnen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, einen Vorteil für sich selbst oder die Familie zu gewinnen, um aus dem Sumpf rauszukommen. Die jungen Frauen sind außen hübsch und zart, innen ganz hart, die Alten abgebrüht und verlebt, alle gestählt durch das Leid der Vergangenheit, so wie die Ukraine immer fremdbestimmt. Am Ende hat mir Oksanen nicht ganz schlüssig alle Motive von Daria und Lada Krawetz erklärt, aber das sind eben auch nur Nebenfiguren beziehungsweise Beiwerk, denn eigentlich wird ja das Schicksal von Olenka erzählt. Deshalb höre ich jetzt schon auf, ein kleines Haar im Süppchen zu suchen und sage: Fazit: Absolute Leseempfehlung! Schon wieder ein Buchstoffhöhepunkt. Aber Vorsicht, das ist definitiv ein Anti-Wohlfühlroman, richtig brutal, gemein, hartgesotten und lapidar grausam. Wer mit so etwas nicht gut zurechtkommt und eine weniger unsympathische Protagonistin haben möchte, wird überhaupt nicht glücklich werden.

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