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awogfli

Posted on 9.2.2022

Ultraviolett beschreibt eine mir ziemlich unbekannte Welt und auch eine mir fremde Generation, aber das schafft der Autor Flurin Jecker so authentisch und dermaßen gut, dass ich sehr viel schlüssig nachvollziehen konnte. Genauso geht gute Fiktion. Der Protagonist, ein junger Mann mit dem Spitznamen Held leidet an seinen Dämonen, die er Geister nennt. Wenn ich aus eigener Erfahrung mal psychologisch-diagnostisch dilettieren und etwas projizieren darf, hat er seit der Kindheit Panikattacken, die er sich nicht erklären kann und er will zudem einfach nicht erwachsen werden. Diese Probleme bekämpft er mit ausufernden, nicht enden wollenden Technopartys in Berliner Szenelokalen und unterschiedlichen Drogen wie Ecstasy, Ketamin, Weed, Kokain, Speed, LSD … . Wie fremd mir diese Welt ist, wurde mir jetzt beim Schreiben dieser Rezension auch gleich wieder klar, denn ich wusste nicht einmal, wie man Ecstasy richtig schreibt – das musste ich googeln. Was mir ausnehmend gut gefallen hat, ist der Umstand, dass die unterschiedlichen Drogenräusche dementsprechend auch sehr verschiedenartig und realistisch beschrieben werden, ebenso wie das wummern der Techno-Beats, die ausufernden Tanzsessions und die unterschiedlichen Szene Lokale wie der Hüpfer. Wenn ich mich zwar persönlich ungerne in solche beatstampfenden, trommelfellzerfetzenden und herzschlagerhöhenden Technoschuppen begebe, so habe ich die total anschauliche Beschreibung derselben ohne Lärm und negative Auswirkungen auf meinen alten Körper sehr genossen. Es ist fast so, als wäre ich dabei gewesen, habe nächtelang getanzt und Drogen genommen, aber ich muss die Auswirkungen nicht unmittelbar ausbaden: den Kater, das Kopfweh, die Dehydrierung, das Herzrasen etc., obwohl ich natürlich geistig mit der Hauptfigur auch diesbezüglich ordentlich mitleiden durfte. Seinen Unterhalt verdient sich unser Protagonist und Studienabbrecher mit Plakatierarbeiten und einem Mini-Journalistenjob bei einem angesagten Szene-Magazin, in dem er gelegentlich über Technoveranstaltungen, -Konzerte und -Geheimtipps schreibt und Interviews mit Szenegrößen gestaltet. Ganz der Deadline-Junkie werden die Artikel immer erst nach dem eigentlichen Redaktionsschluss igendwann in der Nacht fertig, was seinen Chef mittlerweile gar nicht mehr so stört, denn unter Druck läuft Held offensichtlich journalistisch zur Höchstform auf. Bereits zu Beginn der Geschichte lernt unser Held das Mädchen Mira kennen, in das er sich ziemlich flott unsterblich verliebt, das ihm aber vorerst durch seinen Lebensstil durch die Lappen geht. Mira ist eine sehr pragmatische patente junge Frau, die sich normalerweise außerhalb seiner Techno-Szene bewegt. Auch sie mag Held sehr gerne, merkt aber dennoch, dass er derzeit ob seiner psychischen Baustellen und seines Lebenswandels noch viel zu unreif für eine Beziehung ist. Sie setzt ihn unter Druck, stellt ihm fast ein Ultimatum, gemeinsam mit ihm von Berlin in die Schweiz zu fahren. Doch Held ist noch nicht so weit, merkt aber schmerzlich, wie sehr ihm seine Probleme sein Glück verstellen. Deshalb begibt er sich alleine auf die Reise in die Schweiz zu seiner Mutter und auf einen Trip in die Vergangenheit, um zu eruieren, was eigentlich bei ihm in seiner Psyche so beschädigt, und warum es kaputtgegangen ist. Zuerst muss er herausfinden, weshalb ihn die sogenannten Geister – die Panikattacken – verfolgen, denen er schon seit seiner Kindheit mit Flucht und im Erwachsenenleben durch Flucht in Drogen zu entkommen versucht. Dabei begibt er sich auch auf die Suche nach den Problemen seiner Kindheit und dem ein bisschen distanzierten Verhältnis zu seinem Vater. Auch die Probleme seiner Mutter, mit der Held schon immer ein sehr liebevolles Verhältnis pflegte, werden aufgedeckt, denn seine Mutter und seine Tante hatten definitiv in ihrer Kindheit ein schweres Los, das die Mutter aber nie an ihrem Sohn ausgelassen hat. Das ist in sich eine schöne Reise in die Vergangenheit und eine gute, erzählenswerte Familiengeschichte. Was mir aber trotzdem einfach nicht klar wurde, ist der Umstand, warum Held deswegen derart gestört ist. Eine ganz liebe innige Beziehung zur Mutter, ein sehr netter, bemühter, aber emotional distanzierter, kopflastiger Vater und kürzlich ein kleines verdrängtes Trauma, weil sich sein Freund offensichtlich umgebracht hat. Nichts erklärt zumindest mir, die seit der Kindheit bestehenden schweren Panikattacken, die ständige Furcht und Flucht davor, die emotionale Lähmung, sich auf gar nichts – Job, Menschen, Verantwortung – richtig einlassen zu können und diese Lebensunfähigkeit. Viele Kinder ohne Vater mit ganz schweren Gewalttraumata und sexuellen Missbrauchserfahrungen haben zwar auch Panikattacken, aber sind insgesamt einfach durch ihre jahrelang entwickelten Überlebensstrategien weitaus lebensfähiger als unser Protagonist. Zudem dürften sich ja in der Kindheit auch einige Psychotherapie-Spezialisten und Esoteriker das Problem angeschaut haben, ohne es lösen zu können. Das Einzige, was mir dann zu dieser Irritation und ambivalenten psychischen Auflösung im Plot eingefallen ist: Ah, das muss der mir unverständliche Typus des Millennials sein, der ohne einen Funken Frustrationstoleranz und ständig von Mutti behelikoptert, sich in seinen Miniproblemen suhlt und einfach nie angefangen hat, Verantwortung zu tragen. Letztendlich kommt unser Held aber in die Puschen, entwickelt sich, stellt sich am Ende seinen Ängsten und seiner Verantwortung, kriegt das Mädchen und als Sahnehäubchen drauf auch noch das Szene-Magazin. Das ist fast ein bisschen unfair, wie sehr im alles in den Schoß fällt. Fazit: Leseempfehlung! Grandiose Milieuschilderung gemischt mit einer Familiengeschichte und Liebesstory. Zudem eine Coming-of-Age-Story mit einem Protagonisten, der für dieses Genre eigentlich schon viel zu alt ist. Ein paar psychische Motive und Probleme konnte mir der Autor nicht ganz schlüssig erklären, das könnte aber durchaus an meinem eigenen Unverständnis liegen.

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