awogfli
Qualityland 2.0 kommt definitiv im philosophisch-literarischen Anspruch wieder an seinen Vorgänger heran. Beispielsweise werden erneut philosophische Ansätze und wirtschaftspolitische Theorien wie zum Beispiel die Makropolitik von Keynes grandios und humorvoll in die Dialoge eingebaut und im Setting Qualitylands – einer unserer Welt ähnelnden Umgebung einige Jahre in der Zukunft - integriert. Im Universum von Qualityland ist Neoliberalismus keine Wirtschaftswissenschaft mehr, sondern eine Religion, weil sich die Annahmen der Regelung des Marktes als falsch erwiesen haben. Das bedeutet, dass diese Theorien in den Bereich des Glaubens abgerutscht, bzw. aufgestiegen, bzw. halt auch real richtig beurteilt werden. Hayek und Friedman sind nun echte Götter geworden, die angebetet werden. Zudem ist durch den Umbruch der Digitalisierung und dem massiven Einsatz von künstlicher Intelligenz die Digitale Revolution 4.0 nun völlig abgeschlossen. Dadurch entstehende Auswirkungen auf den Faktor Arbeit, Arbeitsmarkt und Politik werden sehr großartig in einem Gespräch zwischen Peter Arbeitsloser und Henrik Ingenieur erläutert. Respektive das Problem, die Menschen überhaupt noch mit sinnstiftender Arbeit zu versorgen. Bezeichnend ist auch, dass im propagandistischen Setting von Qualityland alle anderen Länder als Quantityland bezeichnet werden. Zum Beispiel reicht Quan 1, gleichzusetzen mit China, überhaupt nicht an die Qualität von Qualityland heran, wenn man auch zugeben muss, dass sie das mit der Umwelt und der Wirtschaft weitaus besser managen als in Qualityland. Der Klimawandel ist überhaupt so ein Thema, mittlerweile hat man unsere derzeitige Politik der prokrastinierenden Maßnahmen à la: nächstes Jahr setzen wir uns neue Ziele, die wir dann aus Gründen auch nicht erreichen werden und für die wir uns dann noch Ausreden einfallen lassen müssen , aufgegeben. Nun verdrängt man nichts mehr, sondern man hat sich fatalistisch mit allen negativen Auswirkungen der Erderwärmung abgefunden. Ach ja, natürlich weist die ganze Geschichte nicht nur philosophischen Hintergrund und schreiend komische Bonmots in Dialogen auf, sondern bietet wieder einen sehr gut konstruierten durchgängigen Plot, was ich immer sehr zu schätzen weiß. Nach dem Mord am Androiden John of us hat eine neue Regierung seiner Partei, die Geschäfte übernommen. Aischa ist noch immer Beraterin und versucht dem unfähigen Platzhalter-Präsidenten irgendwie die Ziele von John zu verklickern, scheitert aber an dessen Unfähigkeit und an seinem unabänderlichen Willen, alles so zu lassen, wie es war. Peter Arbeitsloser ist nun aufgestiegen, seit der sich anbahnenden Freundschaft mit dem Gründer von The-Shop Hendrik Ingenieur steigt sein Level unaufhörlich und er ist fast schon so etwas wie ein Promi geworden. Hendrik Ingenieur will nämlich in die Politik einsteigen und hat sich den lästigen Peter, der die Algorithmen in Frage stellte und den rosa Delphin-Vibrator zurückgeben wollte, als jenen Sparringpartner in Diskussionen auserkoren, der ihm die Welt der normalen Leute der Wähler näherbringen soll. Als Angehöriger der Oberschicht, schickt Hendrik aber keine Einladung zu einem Gespräch, sondern entführt Peter einfach zu einem Abendessen. Warum? Weil er es kann und weil Leute seines Standes einfach nicht fragen. Mittlerweile hat Hendrik aber herausgefunden, dass Peter nicht nur ein nützliches Sprachrohr der Nutzlosen ist, sondern durchaus sehr kluger, komplexe Systeme analysierender, geistreicher Gesprächspartner, von dem er noch viel lernen kann. So nebenbei wird uns auch noch vermittelt, wie Hendrik Ingenieurs Vater vor Jahren die maschinelle KI-Revolution durch eine Erfindung quasi im Alleingang eingeleitet hat. Ein optimierter Toaster mit eingebauter künstlicher Intelligenz, der die Scheiben perfekt gebräunt hat, musste damals so viele komplexe Entscheidungen treffen, dass er anschließend mit ein paar Optimierungen geeignet war, jegliche kognitive Leistungen der Menschen in der Arbeit quasi zu ersetzen. Kiki hat wie immer ihre eigenen Probleme. Jemand möchte sie töten. Diese Person, genannt der Puppenspieler, schickt ständig Avatare, um sie auszulöschen und ihre Freunde, wie beispielsweise Peter, über ihren Aufenthaltsort auszuspionieren. Peter und Kiki haben überhaupt eine ganz schräge On-Off-Beziehung. Bei Suche nach der Identität des Puppenspielers, der Kiki ans Leder will, findet die junge Frau auch einiges über ihre Vergangenheit heraus. Martin Aufsichtsrat, der „Mörder“ (unter Anführungszeichen, da man einen Androiden ja nicht richtig umbringen kann) von John of us, spielt als eine wichtige Figur in der Geschichte eine tragende Rolle. Irgendwie hat sich die gesamte Welt von Qualityland gegen ihn verschworen, er wird sowohl von Menschen als auch von Maschinen aussortiert, geschnitten und gemobbt. Man kann ihm wunderschön voyeuristisch beim schrittweisen gesellschaftlichen Abstieg von Level 90+ auf Level 1 zusehen. Dabei hat Martin natürlich auch seinen Anteil an seinem tiefen Fall, denn seit der Geburt mit Privilegien gegenüber anderen Menschen und Maschinen ausgestattet, will er anfänglich einfach nicht wahrhaben, dass sich sein Status geändert hat, er ignoriert überheblich und verbissen alle neuen gesellschaftlichen Konventionen, die nun ihm durch sein niedrigeres Level auferlegt sind. Ein Highlight sind wieder die neuen Produkte aus Qualityland – wundervoll, wie der Autor da seine Ideen nur so im Stakkato rausschüttelt. Den Vogel für mich abgeschossen hat eine App, die den neuen Freund in alle alten Fotos und Videos zurück bis zur Kindheit hineinretuschiert – das war das beste und krasseste Beispiel aus einer Vielzahl an grandiosen Anwendungen. Eine der der sensationellsten Szenen im Hörbuch ist übrigens von Philip K. Dicks Ubik inspiriert. Peter macht bei einem Kühlschrank eine Maschinentherapie, weil dieser sich im Burnout befindet. Während die Kühlschränke der Vergangenheit alles nur kühlen mussten, ist die moderne Version in Qualityland so schlimm gestresst, weil sie Just-in Time Avocados bestellen muss. Wer schon einmal erlebt hat, wie schnell eine Avocado von zu unreif nach braun und faulig mutiert, weiß, welche Herausforderung das ist. Zudem ist der Kühlschrank, der sich als weiblich identifiziert, angeschlagen, da sie ein Gspusi mit dem Herd hatte, der es auch mit dem Thermomix getrieben hat. Ubik at its best! Auch der Staubsauger der Eltern von Peter Arbeitsloser hat so seine psychischen Probleme, befindet er sich doch in einem argen Loyalitätskonflikt, da Peters Mutter eine Affäre hat, die der Staubsauger unter dem Ehebett mitgekriegt hat. Jetzt weiß das Gerät einfach nicht mehr, ob es etwas sagen soll, oder zu wem es halten soll und stellt aus diesem Grund als Überlebensstrategie einfach seine Arbeit ein. Bei den psychischen Auffälligkeiten von menschlichen Figuren und Maschinen (die Unterschiede sind ja manchmal in dieser Geschichte nicht mehr sehr trennscharf auszumachen), sieht man übrigens wieder einmal deutlich, wie detailgenau Marc-Uwe-Kling recherchiert hat. Sogar die Störung F.65.0 – Fetischismus und die Untergruppe Fußfetischismus stimmt mit dem ICD Katalog punkgenau überein. So etwas schätze ich sehr bei Autoren. Eine gruselige Geschichte muss ich auch noch erwähnen. Da die gesamte Welt der Zukunft autonome Waffensysteme besitzt, findet der 4. Weltkrieg in 4 Tagen vollautomatisiert ohne Zutun und Entscheidung der Menschen statt, mit Millionen Toten in Quan 7-8, ohne dass es in Qualityland wirklich viele Leute mitgekriegt haben. Wer die Nachrichten in den Medien nicht verfolgt hat, weiß nichts von der Katastrophe. Der Anlass des Krieges war übrigens so banal, schrecklich realistisch (da schon 1987 fast passiert) und zum Fürchten. Eine Kuh hat verbotenes Territorium betreten, die Maschinen und voll autonomen Verteidigungssysteme haben dies als einen aggressiven Akt identifiziert, automatisiert losgeschlagen und den 4. Weltkrieg ausgelöst. Durch die Effizienz der Systeme dauert so ein Krieg auch nicht lange, wenngleich sehr schnell sehr viele Menschen tot sind. Ihr seht also, ich bin prinzipiell wieder einmal hingerissen von Klings Universum, aber einen klitzekleinen Kritikpunkt muss ich diesmal anführen. Das allerletze Kapitel und Ende war so schnell abgespult und fast schon lieblos hingeschlenzt, dass ich fast ein bisschen enttäuscht war. Waren zwar alle Handlungsstränge aufgelöst und Hintergründe beleuchtet - insofern wurden meine Hygienefaktoren erfüllt - so muss ich schon sagen, dass manche Auflösungen einfach zu banal daherkamen, zwar logisch durchaus vertretbar, aber psychologisch einfach ein bisschen zu unwahrscheinlich und zu wenig beleuchtet. Zum Beispiel die Motive von Martins Vater waren sehr wenig nachvollziehbar, dass er wegen einer Petitesse so ausrasten musste. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Marc-Uwe-Kling entweder einen Abgabetermin hatte oder schon den nächsten Teil vorbereitet und sich einfach noch einiges an Hintergründen und Geheimnissen dafür aufspart. Dass ihm nämlich jemals die Ideen ausgehen, was ich ja auch vermuten könnte, halte ich für total unwahrscheinlich. Fazit: Qualityland 2.0 ist ein absolutes Muss. Dabei möchte ich, wie so oft bei Marc-Uwe Klings Werk anmerken, bitte nicht lesen, sondern das Hörbuch nehmen. Das fetzt einfach viel besser, weil der Autor und Kleinkünstler einfach so gut performen kann, sowohl auf der Bühne als auch mit seiner Stimme. WAHNSINN!!