awogfli
Dieser Roman hat mich von der Figurenentwicklung her sehr verblüfft und mir ausnehmend gut gefallen, wenngleich ich zugeben muss, dass die Überraschung dahingehend geartet ist, dass sich die Protagonistin von Seite zu Seite mehr als ein absolut widerlicher Mensch entpuppt. Wer also mit weiblichen, total unsympathischen Antiheldinnen ein Problem hat und auch den Umstand schwer verkraften kann, dass man von der Autorin zu Beginn auch noch reingelegt wird, die Hauptfigur sehr zu mögen und sich mit ihr zu identifizieren, sollte die Finger von dieser Geschichte lassen. Ich mag das ja besonders, wenn mich AutorInnen bei meinen Schwächen packen, mich am Nasenring durch den Roman ziehen und vorführen. Überraschungen sind nämlich ganz meines. Eve hat irgendwie ihr Leben an die Wand gefahren, die 60-jährige gelangweilte Ehefrau und Künstlerin ist aus der Idylle ihrer relativ gemächlichen Ehe ausgebrochen und nun sehr einsam. Sie resümiert in einer Rückschau ihr Leben und lässt es Revue passieren. In ihrer Sturm-und-Drang-Zeit befand sie sich als junge Studentin zuerst natürlich in prekärer Situation, war aber sehr bald auf dem Sprung zu einer Weltkarriere, hat sich als Mitglied der Warhol Truppe die Nächte um die Ohren geschlagen und lebte völlig freizügig, unabhängig und hedonistisch ihre Bedürfnisse aus. Mit ihren zwei WG-Künstler-„Freundinnen“ Wanda und Mara stand sie in ständiger Konkurrenz um Erfolg, Anerkennung in der Kunst und um Männer. Als Geliebte und Muse des berühmten Künstlers Florian Kiŝ wurde sie als Person auch oft über ihn definiert, aber irgendwann hat sie sich emanzipiert und gegen die bevorzugte Strömung der Portraitmalerei ihres Liebhabers ein eigenständiges Profil in der Darstellung von Pflanzen entwickelt. Irgendwann fand ihr völlig freies Liebes- und Sexleben durch die AIDS-Krise ein jähes Ende. Schon komisch, wie nur zehn Jahre ältere Menschen im Unterschied zu mir die AIDS-Krise als tiefen Einschnitt in ihrem Leben sehen. Ich kenne nur das panische Aufpassen beim Sex und die strikte Verhütung mit Kondomen in den späten 80ern – Naja ich war als ehemalige Klosterschülerin auch Spätstarterin 😉. Von diesem Umbruch animiert, suchte sich Eve einen Mann mit Potenzial zum Heiraten, Kristof, seines Zeichens bereits angehender erfolgreicher Architekt, mit dem sie eine offene Ehe eingeht, die bis in die Gegenwart gehalten hat. Nun hat sie sich zu einer recht arrivierten britischen Künstlerin entwickelt, wenngleich ihr der absolute Welterfolg verwehrt blieb, den ihre ehemalige WG-Freundin Wanda als feministische Aktionistin verwirklichen konnte – ein Genre, das Eve generell verachtet und gar köstlichst verreißt. In ihrer Beziehung zu Wanda und Mara kommt erstmals stutenbissige Eifersucht auf, denn beide Frauen haben ein unterschiedliches Lebenskonzept zu Eve gewählt. Wanda kreist sich im Rahmen ihres extrem erfolgreichen Aktionismus nur um sich selbst und Mara hat die Kunst fast völlig an den Nagel gehängt. Sie ging total in ihrer Rolle als Mutter auf und hat auf Psychotherapie umgesattelt. Auch hier fand immer Konkurrenz statt, denn Eve konnte und kann mit ihrer nicht gerade gewollten Tochter Nancy so gar nichts anfangen. "Nancy hingegen handelte mit Ephemera und trug mit ihrem unvergänglichen Ramsch zu Vermüllung der Welt bei. Allein ihr Hund, dieser lächerliche Mops, hatte wie jeder Schoßhund einen größeren CO2-Abruck als ein SUV." Weil Kristof im Rahmen ihrer offenen Ehe in der Vergangenheit mit fast all ihren Freundinnen, Bekannten und Babysitterinnen geschlafen hat, was Eve zähneknirschend geduldet hat und weil sie auch in ihrer Ehe wie viele Frauen über ihren weitaus erfolgreicheren Mann definiert wird, fand ich es moralisch eigentlich nicht verwerflich, dass sie sich mit 60 Jahren, als ihre Tochter aus dem Haus und selbst Mutter ist, einen 30-jährigen Geliebten zulegt und sich nur noch der Verwirklichung ihres ultimativen Meisterwerks widmet. Mit Liebhaber Luka als Kunstassistent verschmelzen Arbeit und Beziehung im Atelier zu einer sehr befruchtenden Inspiration. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich der Figur sehr nahe gefühlt, sie ist mir regelrecht ans Herz gewachsen und ich wollte rufen: „Yes, Schwester, weiter so!“ Warum sollte der Altersunterschied umgekehrt eine derartig andere Rolle spielen und warum sollte Eve nicht auch einmal nach Absolvierung ihrer Pflicht, die Vorteile der offenen Ehe genießen. Eine Frau, die sich endlich das rausnimmt, was sich ihr Mann schon längst gegönnt hat. Dabei ist es auch nicht wichtig, die Affäre zu beichten, hat Kristof auch nie gemacht. Da beide sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt sind und der eheliche Sex auch schon eingeschlafen ist, ist es nicht einmal nötig, ihren Mann anzulügen, denn Eve geht natürlich zur Arbeit, wenngleich sie im Atelier selbstverständlich auch noch etwas anderes treibt. Bei zwei Dritteln der Geschichte fieberte ich mit der Protagonistin mit und hatte sehr viel Mitleid mit Eve, denn die Abnabelung und Emanzipation vom Ehemann fordert einen hohen Preis. Im Atelier hat Liebhaber Luka schrittweise alles übernommen, zuerst alle anderen Assistenten rausgemobbt und nun mischt er sich auch noch künstlerisch in Eves Meisterwerk ein. Komisch, dass Eve so vom Sex, von Lukas Jugend, vom Fleiß und vom Interesse für die Kunst verblendet ist, dass sie diese fiese Intrige nicht bemerkt. Im letzten Drittel entpuppt sich jedoch der Charakter von Eve als derart verachtenswert, dass sie den ultimativen Showdown und die Vernichtung ihrer beruflichen und privaten Existenz mehr als verdient hat. Ich will hier diesmal überhaupt nicht spoilern, aber die mir als so patente, feministische, sexuell unabhängige Schwester präsentierte Protagonistin ist überraschenderweise so abgrundtief verrottet, dass mir die Spucke wegblieb. Und das hat mir nun am besten am Roman gefallen. Da baut man ganz langsam über die gesamte Handlung eine sehr wohlwollende Beziehung zu einer Figur auf, die halt gegen die Rollenklischees ein bisschen rebelliert und dann killt die Autorin schonungslos wie mit einem Samuraischwert unvermutet diese aufgebaute Sympathie. Sensationell, wenn ein Plot derart unvorhersehbar aber glaubwürdig eine Wendung um 180 Grad nimmt. Warum dieser Roman zudem im letzten Abdruck noch auf meiner Bestenliste für 2021 landen wird, ist abgesehen von der Handlung und der sensationellen Figurenentwicklung auch schnell erklärt. Die Autorin ist eine Meisterin der Sprachfabulierkunst und ihre Analysen sind großartig. Auch wenn ich mir lieber auf die Zunge beißen möchte, weil ich sie nicht über ihren Ehemann definieren will, erinnert mich McAfees pointierter Schreibstil dennoch sehr an ihren Gatten. Beim Namen nennen möchte ich ihren Mann nicht, das möge jeder selbst recherchieren, denn ich möchte sie als eigenständige Autorin sehen. Ich will diesen grandiosen Umgang mit der Sprache und den Vergleich nicht als Relativierung, sondern als großes Lob anbringen, denn er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. Gerne würde ich bei denen zu Hause Mäuschen spielen, wenn die beiden im Wohnzimmer im Fauteuil sitzend in einer Diskussion brillant ätzen. Bezüglich der bitterbösen Analysen macht die Geschichte natürlich mehr Spaß, wenn man ein bisschen was von Kunst und dem Kunstmarkt versteht. Alleine der Verriss der Wiener Aktionisten und die allgemeine Verachtung der Aktionskunst ist herrlich böse. " […] erzählte ihm Plattitüden über Wanda […] und über die ganze Meute, Bio-Art, schmierige Körperflüssigkeiten und Selbstverstümmelungen, die Fluxus Bewegung und die Sadomaso-Deppen der Aktionisten. […] Sie erzählte ihm auch nicht, dass ihrer Meinung nach Wandas Erfolg auf einer Blendung der Kunstszene beruhte, ein Fall von des Kaisers neue Kleider, in dem auch die jubelnde Menschenmenge nackt war." "Damals glaubte sie, dass Reisen eine notwendige Bedingung für eine erfülltes Leben sei, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen zurückgelegter Entfernung und angeeignetem Wissen gebe. Sie wurde schnell eines Besseren belehrt, bei ihren kurzen Ausflügen auf dem Hippiepfad und der Begegnung mit zahllosen Schwachköpfen, die in ihrem solipsistischen Nomadentum, einem Privileg der Jugend, quer durch Europa bis nach Griechenland trampten, oder durch Indien wanderten, Millionäre im Vergleich mit den Einheimischen, aber extra barfuß und auf der Suche nach einem Ich, das die Mühe kaum wert war." Fazit: Für mich ein Highlight – großartiges Lesevergnügen für Leute, die mit einer Antiheldin leben können und einen Faible für beißende, bitterböse Ironie pflegen.