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awogfli

Posted on 17.12.2021

Eigentlich entspricht dieser Roman ganz meinem Beuteschema, denn er liefert eine herzzerreißende Geschichte über zwei Schwestern in einer toxischen Familiensituation und wie unterschiedlich beide damit umgehen, beziehungsweise ihr Leben bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter zu meistern versuchen. Leider hatte ich aber stilistisch so gravierende persönliche Probleme mit dem Werk, dass sie mir meine Lesefreude und somit auch die gesamte Geschichte ein bisschen vergällten. Mutter Nora ist alleinerziehend, Sozialhilfeempfängerin mit leicht krimineller Ader, möglicherweise psychisch krank, will sich aber nicht helfen lassen, schwere Alkoholikerin und zudem auch im seltenen nüchternen Zustand total übergriffig gegen die Kinder. Eine Frau, die sich darin gefällt, gegen die Gesellschaft, gegen die Konventionen und in ihrem Egoismus halt auch komplett gegen die Bedürfnisse ihrer Kinder zu leben. Die Kids gehen immer wie auf rohen Eiern, welche von den drei bis fünf Moms – die bis zur Bewusstlosigkeit Betrunkene, die weinerlich Liebesbedürftige, momentan Einsichtige mit Schuldgefühlen behaftete, die Aggressive gegen die Gesellschaft polemisierende, die Übergriffige … etc. – sie täglich nach der Schule erwartet. Der Vater ist zu Beginn größtenteils abwesend, also nur jedes zweite Wochenende verfügbar und nach einer neuen Beziehung wie viele Männer dann eben auch sehr gut darin, die alte, nicht mehr funktionierende Familie inklusive seiner eigenen Kinder zugunsten der Stiefkinder komplett zu entsorgen. Das ist das Leben, also die Kindheit, die Jugend und die Adoleszenz, die Kine und Nico, die zwei Schwestern als Co-Abhängige mit völlig unterschiedlichen Strategien meistern müssen. Nico rebelliert gegen die Mutter, grenzt sich ab, zieht sich völlig in sich und in ihre Ängste zurück. Kine versucht die Mutter zu lieben, zu verstehen und diese Frau, die völlig unberechenbar ist, permanent zu analysieren um ihr dann in der gegenwärtigen Laune durch ihr Verhalten zu gefallen. Nach und nach sieht man, wie die zwei Mädchen erwachsen werden, ihre Bewältigungsstrategien ausbauen, etwas anpassen, aber sie prinzipiell nicht ändern. So wie mit den Problemen mit der Mutter umgegangen wird, so interagieren sie im Muster auch mit ihrer restlichen Umwelt. Nico ständig misstrauisch, zurückgezogen und sehr misanthrop mit anderen Menschen außer ihrer Schwester kaum Kontakt und Nähe aufbauend, und Kine immer gefällig, beliebt und erfolgreich, alle Fehler Anderer relativierend. Konzeptionell wird in den größeren Abschnitten die Handlung und die Sichtweisen von zwei Seiten beleuchtet, nämlich von Kine und von Nico, was der Figur der Mutter und der Probleme mit der toxischen Familiensituation eine sehr ansehnliche Tiefe verleiht. Leider wird innerhalb der Abschnitte mit einem extrem szenischen Stil gearbeitet, alle drei bis vier Seiten wechseln sich sprunghaft im Stakkato die Szenen ab und die Handlung springt weiter. Hier muss ich nun einräumen, dass der Stil perfekt zur chaotischen Kindheit der zwei Mädchen passt, also den Roman authentisch macht, aber ich habe eben mit einer derartigen Eskalation einer solchen Struktur (tatsächlich komplett inflationär angewandt) immer massive Probleme, weil ich mich extrem im Lesefluss gestört fühle und mir diese Stiftung von künstlicher Verwirrung nach und nach auch die zugegebenermaßen sehr gute Handlung vergällt. Zudem verblassten dann oft die ursprünglich gut gezeichneten Figuren der beiden Schwestern, weil ich Szenen manchmal bei neutraler Handlung, die sich nicht eindeutig einer Strategie zuordnen ließen, in meiner Erinnerung falsch einsortierte. Es ist schon bezeichnend, wenn ich bei einem Buch mit übersichtlichem Personal nochmals nachschauen muss, welche Figur der Schwestern nun welchen Namen trägt. Und dann kommt noch der Überhammer, ein offenes Ende voller nebulöser Andeutungen, die nicht aufgelöst werden, das kann ich auf den Tod nicht leiden. Ich musste dabei sogar von meinen Prinzipien abgehen und Rezensionen von anderen vor der Erstellung meiner eigenen Kritik lesen (ich möchte mich nicht vorab in meiner Meinung beeinflussen lassen), wurde aber dennoch nicht fündig. So, hier kommt nun die Spoilerwarnung, wer das Buch noch nicht gelesen hat und sich überraschen lassen will, bitte im übernächsten Absatz weiterlesen. Alle anderen sind sehr gerne und dringend dazu aufgerufen, mir meine brennende Frage zu beantworten. Irgendwie kam mir vor, dass sich Nico, die im letzten Kapitel verschwunden ist, sich irgendwann kurz vor Ende ihres Abschnittes trotz ihrer permanenten Angst zu einem Flug entschlossen hat. War das nicht Malaysia Airlines MH-317 oder MH-17, die beide abgestürzt sind? Dieser Umstand wird aber nicht aufgeklärt, sondern nur angedeutet und so etwas hasse ich sehr. Ich war am Ende der Geschichte auch schon so genervt und an der Handlung und den Figuren desinteressiert, dass ich das Buch nicht mehr zur Hand nehmen wollte, um dies nachzurecherchieren. Alleine das sagt ja schon alles. Ich gestehe, mit beiden obigen Kritikpunkten bin ich nicht ganz auf der Linie von Literaturfans, die offene mysteriöse Enden lieben und stroboskopartige Szenenwechsel, wenn sie denn in die Geschichte passen, als innovativ empfinden. Ich bin halt eine manisch plotorientierte literarische Puristin, die stilistische Spielereien und offene Enden, wenn sie dann so ausufern, dass sie den Tatbestand der Leser*Innenquälung erfüllen, partout nicht ausstehen kann. Literarisches Flagellantentum ist mir fremd und meine intellektuelle Eitelkeit, ein sehr schwieriges, mysteriöses Werk interpretiert zu haben, ist auch zu wenig ausgeprägt, wenn Plot und Stil künstlich eine Wirrnis erzeugen, die meine Lesefreude ganz allmählich schleichend absterben lässt. Außerdem mache ich nicht gerne die Arbeit der Autor*Innen und bastle mir selbst ein Ende. Das ist meiner Meinung nach wirklich nicht meine Aufgabe. Fazit: Für mich ist das Buch nur durchschnittlich, weil es gegen alle meine bevorzugten Regeln der Erzählkunst verstößt. Andere mögen diese Art der Romanform aber als sehr innovativ empfinden. Das Thema, die Handlung und die Figur der Mutter fand ich aber über weite Strecken sehr gut gelungen.

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