awogfli
Dieser Roman hat schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel, respektive ist er vor dem zweiten Weltkrieg entstanden. Dennoch ist das Thema auch heute noch sehr interessant und zeigt nachdrücklich, wie sich eine von bitterer Armut und schwerer Arbeit geprägte Kindheit so gut wie ohne Liebe und Zuwendung auch auf das Leben einer Erwachsenen auswirken kann, obwohl sich die Situation der Protagonistin extrem verbessert hat. Es ist etwas kaputtgegangen in Heleen, was sich auch durch Glück und ein schönes Leben einfach nicht mehr reparieren lässt. Besonders positiv hervorzuheben sind zwei Eigenschaften dieser Geschichte: erstens das brillante und konsistente Psychogramm, das die Autorin von ihrer Hauptfigur zeichnet, inklusive der tiefenpsychologischen Analyse der Seele und zweitens die innovative Erzählform, denn die verstummte Heleen legt eines Tages bei der Nachtschwester einer Nervenklinik, in der sie einsitzt, in Form eines Monologs ihre Lebensbeichte ab. Der Erzählstil und die vielen Abwägungen der Protagonistin bezüglich ihrer Umwelt und der daraus resultierenden Lebens-Entwicklung bis zu einem grausamen Finale erinnert ein bisschen an Sandor Marais Glut. Könnte durchaus sein, dass sich Marai die Geschichte von Marianne Philips zum Vorbild für seinen erfolgreichen Roman genommen hat. Heleen hat als älteste Tochter einer sehr armen kinderreichen protestantischen Pastor-Familie nie Zuwendung kennengelernt. Schon als zwölfjähriges Mädchen muss sie ihre Geschwister versorgen, als der Vater in Folge eines Unfalls bettlägerig wird, muss sie die Mutter im Haushalt vollständig ersetzen, da diese nun für den Lebensunterhalt der Familie ganztägig arbeiten gehen muss. Der vor Rechtschaffenheit und Strenge triefende Vater, rührt als Behinderter zu Hause keinen Finger, im Gegenteil, er lässt sich von hinten bis vorne bedienen und tyrannisiert auch noch seine älteste Tochter. Gesund genug, dass er seiner Frau noch ein Kind anhängen kann, ist er dann aber doch. Nun hängt die Versorgung der Nachzügler-Schwester Lientje auch an Heleen, die zudem noch ganztägig eine Lehre als Schneiderin stemmt. Manchmal ist sie so müde, dass sie sterben möchte, denn ihre Schwester brüllt die ganze Nacht und lässt sie nicht schlafen. Irgendwann entrinnt sie als Geliebte eines Handelsvertreters dieser Hölle, der ihr in der Stadt einen Job besorgt und sie aushält. Selbstverständlich ist sie nun für die finanzielle Versorgung ihrer Eltern zuständig. Als sie im Job als Managerin der Luxusabteilung eines Kaufhauses angekommen ist, könnte ihr Glück perfekt sein, denn sie kann sich nun selbst beziehungsweise ihre Familie versorgen und hat durch ihre Unabhängigkeit auch die Möglichkeit, sich ihres Geliebten zu entledigen. Bald brechen aber die alten, angelernten moralischen Verhaltensmuster durch, Heleen gibt ihren Job zugunsten einer unglücklichen Ehe mit einem älteren Mann auf. Nach der Scheidung bleibt ihr wieder nur die harte Arbeit als Schneiderin rund um die Uhr, denn an die frühere berufliche Karriere als Managerin kann sie nicht mehr anknüpfen. Zudem muss sie auch noch Lientje versorgen, da ihre Mutter nach einem harten, arbeitsreichen Leben gestorben ist. Ihre große Liebe lernt Heleen durch ihre Schwester kennen, Hannes ist der Schwimmlehrer von Lientje. Nun könnte Heleens Leben und Glück fast perfekt sein, die drei leben einigermaßen in geordneten Verhältnissen und ohne große Sorgen. Als die Protagonistin Hannes seinen großen Wunsch nach einem Kind nicht erfüllen kann, treten die alten Traumata und Schatten der Kindheit wieder aus der Versenkung hervor. Heleen ist extrem eifersüchtig und verfällt in tiefe Depressionen. Obwohl sie sich ihres Glücks und der Liebe ihres Mannes bewusst ist, ihre Fehler sogar einsieht und thematisiert, kann sie nicht aus ihrer Haut heraus und vertreibt durch ihre eigenen Probleme die Liebe ihres Lebens, was letztendlich zur Katastrophe führt. Großartig konzipierte Figur der Protagonistin mit freudscher Lupe betrachtet, hervorragende Sprache, da gibt es nix zu kritisieren. Leider hatten die Schriftstellerinnen aus der Zeit von Marianne Philips keine so hohe Chancen, weltberühmt zu werden. Verdient hätte sie es sich. Ihre literarische und politische Karriere endete bedauerlicherweise mit der Machtergreifung der Nazis, denn die Autorin war Jüdin. Schade! Fazit: Wärmste Leseempfehlung! Ein grandioses tiefenpsychologisches Portrait einer Frau über weibliche Identität, Rollenklischees, Traumata, Liebe, Moral, Wahnsinn und der vergeblichen Suche nach Glück und Zufriedenheit. Übrigens auch ganz schön feministisch für so eine uralte Geschichte.